Varia Variorum

Varia Variorum

 

Vermischte Texte jeglicher Art von verschiedenen Autoren
 
 

Abiturrede Dieter Wohlenberg. 24. Juni 2005

Abiturrede Vanja Kovacev und Rupprecht zu Dohna. 24. Juni 2005

Rundschreiben an die Ehemaligen. April 2005

Abiturrede Wulf Rodewald, 21. Juni 2004

Urkunde zur Grundsteinlegung des neuen Oberstufenhauses: 23. Mai 2003

Nachruf auf Franz Bömer, gest.27.Januar 2004

Rundbrief an die Ehemaligen: 8.12.2003

Matthias Glage: Fragen eines subjektiven Subjektes

Der vorherige Text von Matthias Glage

Matthias Glage: Ansprache an die Abiturienten

Varia Variorum Latina – Lateinische Sentenzen; ex officina WG

Menso Heyl: An die Hamburger Abiturienten

Abiturrede Menso Heyl,  24. Juni 2003

Rückblick auf das Jubiläumstreffen am 7.September 2002, mit einem Nachtrag von Philip Marx (Abit. 1997)

für Helga Urbach zum 78. Geburtstag, 1. August 2002

Abiturrede Gudrun Ullrich, 20. Juni 2002

Abiturrede Johannes Beutler, 20. Juni 2002

Nachruf auf Hannsjürgen Harms, Dezember 2001

Walter Gerhard: Ansprache zum Tode von Dr. Hagen Lenthe, 30. Juni 1955

Als Nachtrag: Gerhart Hauptmann, Michael Kramer, Vierter Akt, Schlussszene

Gabriele Krüger: Nachruf auf Susanne Waller, gest. 11. Dez. 2003

Wie es im Leben so geht: Manfred Fuhrmann

Noch einmal zu Manfred Fuhrmann

Manfred Fuhrmann: Wer nicht von dreitausend Jahren …



Abiturrede Dieter Wohlenberg. 24. Juni 2005

Der folgende Text ist die Ansprache, die Dieter Wohlenberg, Dr. theol., Abit. WG 1955, als Ehemaliger an die diesjährigen Abiturienten gerichtet hat. Seine Rede steht damit damit in einer Tradition, die seit einigen Jahren mit grossem Erfolg an unserer Schule praktiziert wird.
 
Allen, die gelegentlich in unserer alten Festschrift blättern, ist Dieter Wohlenberg bereits bestens bekannt: als Verfasser des Beitrags über „die Ära Gustav Fock“ und das Musikleben am WG um 1950 (S. 222ff.).
 
Die Anfangsverse wurden übrigens von ihm gesungen, mit mächtiger und raumfüllender Bassstimme, vergleichbar den Posaunen des Jüngsten Gerichts. Ein gewisses Erschrecken bei einigen Zuhörern legte sich schnell – und machte einem befreiten Aufatmen Platz, als sie erfuhren, wie alles zusammenhing. – Und einer sagte hinterher, er habe an die Katharsis-Theorie der antiken Tragödie denken müssen.
 
Am Klavier, umsichtig und einfühlsam begleitend: Angela Reinhardt, eine junge Musiklehrerin am WG (die übrigens erst ganz kurz vorher, durch einen Anruf aus Berlin, von dem Ansinnen erfahren hatte, – und dann spontan dazu bereit war).
 
Wach auf, du verrotteter Christ!
 
Mach dich an dein sündiges Leben,
 
zeig was für ein Schurke du bist,
 
der Herr wird es dir dann schon geben!
 
Verkauf deinen Bruder, du Schuft!
 
Verschacher dein Ehweib, du Wicht!
 
Der Herrgott, für dich ist er Luft?
 
Er zeigt dirs beim Jüngsten Gericht!
 
Meine Damen und Herren: damit Guten Morgen!
 
Ihnen allen gelten meine herzlichen Glückwünsche:
 
Vor allem Ihnen, hochrespektable Abiturientinnen und Abiturienten: Sie haben mit dem Schulabschluss die Voraussetzung für Weiteres erreicht.
 
Gratulation nicht minder Ihnen, den glücklichen Eltern: Sie können – zumindest kurzfristig – die Sorge um Ihre Töchter und Söhne beiseite lassen.
 
Und Glückwunsch ebenso Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Sie dürfen erleichtert sein, mal wieder einen Jahrgang über die Hürde gehievt zu haben.
 
Ich bin selbst einige Jahre lang Lehrer gewesen, in Hamburg und in Hessen; dann war ich in Nordrhein-Westfalen in der Lehrerausbildung und später viele Jahre in der Erwachsenenbildung tätig; jetzt lebe ich im Ruhestand, in Deutschlands interessantester Stadt (während Sie in der schönsten zuhause sind). – Mit Schule habe ich nur noch als ehrenamtlicher Vorleser und Leselernhelfer in einer Kreuzberger Grundschule zu tun.
 
Natürlich habe ich überlegt: Was kann man einer solchen Festversammlung zumuten und womit sollte man sie verschonen? – Denn, mit Karl Kraus: „Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben; man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken“ – ein Motto, das wahrscheinlich über vielen schulischen Textprodukten stehen könnte, von Profilentwürfen bis zu Abituraufsätzen.
 
Deshalb habe ich Sie mit einem gesungenen Einstieg genervt, dem Morgenchoral des Peachum aus der „Dreigroschenoper“, Text von Bertolt Brecht, Musik von Kurt Weill. – Beide kamen im Unterricht der 50er Jahre nicht vor. Der Autor stand in der Zeit des Kalten Krieges unter Kommunismusverdacht und wurde ignoriert. Der Komponist genügte nicht den Niveauanforderungen des Musikunterrichts. Ein kleines Stück Wiedergutmachung also, wenn auch ohne Interpretation (dergleichen selbst zu leisten, haben Sie ja gelernt).
 
Dieser Auftritt war aber auch als Dankeszeichen gemeint gegenüber der Schule und unseren damaligen Lehrern. – Sie haben uns immer wieder Podiumserfahrung ermöglicht, den Mut zur Bewährung vor Publikum, – Texte bei Schulfeiern, Rollen in Aufführungen, Beteiligung an musikalischen Ereignissen, dazu für mich immer wieder Aufgaben am Klavier. – Und so maulte Herr Dr. Drude, als ich mal wieder an einer †Übersetzung scheiterte: „Wohlenberg, Sie können och bloss Klavier spielen.“
 
Ich bleibe beim Anekdotischen und beschränke mich auf zwei Personen, die seit meiner Schulzeit bis heute am WG überdauert haben. – Sie kennen sie also. – Die erste Person ist Dr. Peter-Rudolf Schulz. Er war unser beständiger Klassenprimus, nun auch Goldener Abiturient. – Wenn im Physikunterricht irgendetwas – und das war ziemlich regelmässig der Fall – nicht funktionierte, z.B. der Papinsche Topf, hiess es prompt: „Schulz, geh zum Mechaniker.“ – An diesem Satz erkennt man zweierlei: (a) Schulz bedurfte des inzwischen behelfsmässig
weitergeführten Unterrichts nicht, – und, höchst staunenswert, (b) die naturwissenschaftliche Sammlung verfügte über den Arbeitsplatz einer Fachkraft, die für ihre Wartung zuständig war. – Goldene Zeiten!
 
Trotz des fehlenden Bedarfs an Unterricht war Schulz gleichwohl dessen höchst aufmerksamer Beobachter. Und wenn in Mathe Herr Zachariae, ein Mensch von unbestechlicher Korrektheit, die Tafel mit ellenlangen Ableitungen beschrieb, kam es zuweilen vor, dass Schulz in aller Höflichkeit sich erlaubte, auf einen Fehler hinzuweisen. – Zachariae, leicht irritiert, prüfte den Sachverhalt, um dann zu erklären. „Leider haben Sie recht“, – ein, wenn auch etwas verstecktes Lob.
 
Mir wurde solches nicht zuteil, als ich in der Abiturarbeit bei einer Aufgabe zwar zum richtigen Ergebnis kam, – aber auf einem nicht akzeptierten Lösungsweg. Mein Ergebnis war – wie Zachariae darunterschrieb und unterstrich – „falsch“, weil nur „zufällig“ richtig: ein Urteil von geradezu Loriotscher Qualität.
 
Wieso weiss ich überhaupt davon? Nach der damals vorgeschriebenen Sperrfrist durften wir unsere Abiturarbeiten und auch andere Materialien nicht nur einsehen, sondern mitnehmen. Ich konnte also auch meinen Deutsch-Aufsatz und meinen Bildungsbericht nachlesen. Letzterer war eine Darlegung des eigenen Bildungsganges von der Kindheit bis zum Abitur und war mit der Meldung zum Abitur einzureichen. Bei dieser Lektüre war ich tief erschrocken über den Grad der Anpassung, der sich da zeigte: Anpassung an damals geltende Idealmuster und vermutete Lehrermeinungen. – Erziehung zum kritischen Denken, Mut zur Abweichung und die Fähigkeit, sie argumentativ zu bewähren, hatten noch keinen Stellenwert. – Darf ich hoffen, dass sich das gründlich geändert hat?
 
Die Nötigung zur Anpassung kann auch folgenden Grund haben: In den Klassen 5 und 6 hatten wir einen Klassenlehrer, der uns, immerhin 42 Jungen, mit selbstverständlicher Autorität, mit Humor und grossväterlicher Güte durch die anfangs ungewohnten gymnasialen Gefilde leitete. – Stellte jemand eine schulorganisatorische Frage, pflegte er zu sagen: „Liebling, geh zu Tante Hoffmann!“; das war die Schulsekretärin. – Handelte es sich um eine Sachfrage, konnte er den Fragesteller nach vorn locken: „Liebling, ich will es dir ganz genau sagen“,
und leise, aber hörbar ihm ins Ohr flüsternd: „Ich weiss es nicht.“
 
Als wir uns nach den Ferien frohgemut  in der Klasse 7 einfanden, erlebten wir die †Überraschung eines neuen Klassenlehrers, der uns sofort in einer Weise und in einem Masse zusammenschiss – Verzeihung; aber man kann es nicht anders nennen – dass es für die meisten bis zum Abitur reichte, – in einem Fall bis heute ein Trauma. Dass wir ihm bis zum Abitur in drei Hauptfächern (Deutsch, Latein und Griechisch) ausgeliefert blieben, dazu Religion und zeitweise Geschichte und Philosophie bei ihm hatten, machte die Sache nicht eben erträglicher. Man versuchte zu überleben, und manchmal stand schon der Schulweg unter vorausahnenden Ängsten.
 
Doch lässt sich auch Positives sagen: Bei Schullandheimaufenthalten und Klassenfahrten blieb niemand, etwa aus finanziellen Gründen, aussen vor. Und der Ehrgeiz dieses Klassenlehrers forderte uns natürlich auch: So spielten wir in seiner Einstudierung die „Antigone“ des Sophokles in griechischer Sprache. Ich hatte das schönste Kostüm und die kürzeste Rolle, nämlich die der Königin Eurydike.
 
Mit Hilfe der Einnahmen aus drei Aufführungen und deren Aufzeichnung beim damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk konnten wir in der Abschlussklasse eine Italienreise machen (damals noch etwas ganz Ungewöhnliches), die mich z.B. angesichts der Tempel von Paestum ahnen liess, weshalb ich Griechisch im Vergleich zu Latein immer als das Lebendigere und Schönere empfunden hatte, obwohl es mir schwerer fiel. (Die jahrzehntelange Sehnsucht, diesem Eindruck noch einmal nachzuspüren, konnte ich mir vor einigen Wochen erfüllen – meine ganz eigene 50-Jahr-Feier -, ein Glücksmoment). – In der Erinnerung überwiegen also auch hier Gefühle der Dankbarkeit.
 
Zurück zum Anekdotischen. Ich bin Ihnen die zweite Person schuldig, auf die ich erst jetzt komme, uncharmanterweise, denn es handelt sich um eine Dame. – Wir galten ja als eine gute Klasse und waren deshalb bevorzugtes Versuchsfeld für eine ganze Reihe von Referendaren – und einer Referendarin, in Latein: Frau Dr. Helga Urbach. – Mein Erlebnis mit ihr hat den Hintergrund, dass das WG bis 1953 eine reine Jungenschule war; auch im Lehrerkollegium gab es nur Herren. Insofern war eine Referendarin schon eine Sensation. – Im Unterricht bei Frau Dr. Urbach übersetzten wir nun eines Tages eine Geschichte, vermutlich aus den Metamorphosen des Ovid. Es ging jedenfalls um eine weibliche Person, vielleicht Niobe, die angstvoll ihre Kinder an ihre Brust drückte. Ich war dran, und es war mir unmöglich, in Gegenwart einer Frau von einer weiblichen Brust zu reden. Ich übersetzte also: „Sie drückte sie an sich.“ Frau Dr. Urbach bestand auf korrekter †Übersetzung und war auch mit meinem neuen Versuch: „drückte sie an ihren Körper“ hartnäckig
unzufrieden. – „Er mag es nicht sagen“, rief einer dazwischen. – So war es: so verklemmt waren wir damals. – Sich bei uns durchzusetzen, fiel Frau Dr. Urbach übrigens keineswegs schwer. Aufgrund klarer Zielsetzungen und fachlicher Kompetenz gewann sie unerzwungenen Respekt. – Und es berührt mich sehr (und absolut nicht mehr peinlich), Ihnen, Frau Dr. Urbach, bei dieser Gelegenheit noch einmal zu begegnen.
 
Fast alle Mitschüler sind das geworden, was sie beim Abitur als Berufsziel angegeben hatten. Und fast alle sind in Hamburg und seiner nächsten Umgebung geblieben. Unsere Zukunft war noch gewiss. Ihre ist fragil, und Garantien gibt es nicht mehr. Das †Überangebot von Wissen schafft paradoxerweise Ungewissheit. Alles
scheint möglich, aber kaum etwas erweist sich als realisierbar. Flexibilität und Mobilität sind gefragt, Risikobereitschaft. – Und die Fähigkeit, Unübersichtlichkeiten und Ambivalenzen auszuhalten, muss erst noch eingeübt werden.
 
Das sind gewaltige Anforderungen, auch an die psychische Stabilität. Ich beneide Sie darum nicht.
 
Hätte ich drei Wünsche für Sie frei, dann wären das:
 
Erstens:
Ich wünsche Ihnen Menschen, die an Sie glauben. – Einer meiner Mentoren in der Referendarzeit fragte mich einmal, ob ich mir nicht auch einen anderen Beruf vorstellen könnte. Ein anderer setzte Zutrauen in mich und begleitet mich als Freund bis heute. So wie auch Schulfreundschaften bis heute Bestand haben. Die Gegenerfahrung: Wir hatten ein Klassentreffen aus Anlass des 50jährigen Abiturs, und beim Verabschieden sagte einer zu mir: „Ich habe immer ein besonderes Faible für dich gehabt; aber du hast es wohl nie gemerkt.“
– Mögen Sie also freundschaftsfähig sein, aufmerksam dafür, was und wer Ihnen begegnet.
 
Zweitens:
Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihrer Schule dadurch dankbar bleiben, dass Sie das hier Gelernte und Erfahrene weiterentwickeln, über Sach- und Leistungswissen hinaus. Nicht um eines Nutzens willen. Alles, was eine Funktion hat, ist ersetzlich. Unersetzlich ist nur, was zu nichts taugt – z.B. einen Roman lesen oder ein Gedicht, ohne eine Interpretation liefern zu müssen, eine Bootstour machen, ohne einen Rekord aufstellen zu wollen, Musik hören, nicht um sie im Leistungskurs zu analysieren, nur so, aus und zur Freude. So entsteht Bildung, und so ersparen Sie sich lebenslang die Anstrengungen der Dummheit.
 
Drittens:
Ich wünsche Ihnen Zugang zu einer Utopie, die das Vorfindliche überschreitet, zu einem Horizont, der auch in schwierigen Phasen sich nicht verdunkelt, Unterwegssein zu einer tragenden †Überzeugung, vielleicht: Glaubenszuversicht. Ich wünsche Ihnen die Erfahrung unverdienten Gelingens und unverhofften Bewahrtbleibens. In einer ganz alten Formel gesagt: Gnade sei mit Ihnen!
 
Ein Symbol für solche Utopien kommt auch in der „Dreigroschenoper“ vor: Es ist das Bild vom Schiff  mit den acht Segeln im Song der Seeräuber-Jenny. Und jede und jeder mag dieses Bild mit der eigenen Sehnsucht füllen und in der eigenen Lebensgestaltung konkret werden lassen:
 
Meine Herren, heut sehn Sie mich Gläser auswaschen
 
und ich mache das Bett für jeden.
 
Und sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell
 
und sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel
 
und sie wissen nicht, mit wem sie reden!
 
Aber eines Tages wird ein Geschrei sein am Hafen
 
und man fragt: „Was ist das für ein Geschrei?“
 
Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern
 
und man sagt: „Was lächelt die dabei?“
 
Und ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen
 
wird liegen am Kai!
 
Meine Damen und Herren, hochrespektable Abiturientinnen und Abiturienten, verehrte Frau Dr. Urbach, lieber Peter: ich danke Ihnen für die Geduld des Zuhörens; ich danke der Schule für die Einladung und Frau Reinhardt für die sensible Begleitung.
 
Ihnen allen noch einen frohen Tag!
 
Und das Schiff mit acht Segeln wird entschwinden mit mir
 
 
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Vanja Kovacev, Rupprecht zu Dohna: Abituransprache 24. Juni 2005

Der folgende Text ist die Ansprache zweier Abiturienten aus unserem diesjährigen Abiturjahrgang; er ist von beiden gemeinsam verfasst und wurde in der Aula in Dialogform vorgetragen.
 
Sehr geehrte Frau Westenhoff, – meine Damen und Herren, – liebe Eltern!
 
Wir fühlen uns ausserordentlich geehrt, heute für den Abiturjahrgang 2005 die Abiturrede halten zu dürfen.
 
Am heutigen Tag der offiziellen Entlassung erhalten wir unser Abiturzeugnis und damit die Beglaubigung, die Reife zum Besuch einer Hochschule erlangt zu haben. – Im Gegensatz zu den Jahrgängen vergangener Jahrzehnte wagen wir zu behaupten, schon mehr von der Welt gesehen zu haben, mehr Eindrücke gewonnen, mehr Erfahrungen gesammelt zu haben. – Ob dies zugleich auch ein mehr an Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein bedeutet? – Wir wünschen es uns.
 
In vielen Schülerreden findet man umfangreiche Darstellungen über Beginn und Entwicklung der Klassen und Stufen von der 5. Klasse an. – Nun ist unser Jahrgang weniger durch den Zusammenschluss der beiden ursprünglichen Klassen, als vielmehr durch eine ausserordentlich hohe Fluktuation während der Studienstufe geprägt worden: Weniger als die Hälfte derjenigen, die hier vor fast genau neun Jahren eingeschult worden sind, sitzen heute unter uns. Die andere Hälfte ist zum Teil erst seit sehr kurzer Zeit an dieser Schule. In vielerlei Hinsicht wurde unsere Stufe durch diese Zugänge massgeblich geprägt. Der ständige Zustrom an vielfältigen und individuellen Persönlichkeiten führte zwar zum einen zu einer selten dagewesenen Heterogenität des Jahrgangs, erschwerte aber zum andern in vielen Fällen die erfolgreiche Aufnahme in die bestehende Struktur, wobei sich auch diese nicht durch eine grosse und abgeschlossene Gemeinschaft, sondern durch eine weitgehende Aufsplittung in kleine Gruppierungen definieren liesse.
 
Das Fehlen einer Klassengemeinschaft, eines Zugehörigkeitsgefühls und eines bisweilen nur schwach ausgeprägten Toleranzempfindens spiegelten sich sowohl im unzulänglichen Engagement der Schüler in Bezug auf ausserunterrichtliche Aktivitäten an der Schule, als auch in der Tatsache wider, dass ausserhalb der Schule ein Kontakt untereinander zumeist nur in schon ausgeprägten Konstellationen stattfand.
 
Ist nun aber dieses unzureichende Engagement nur symptomatisch für unsere Stufe – und damit ein Einzelfall, oder sind Grundzüge dieser Motivationslosigkeit auch sonst in Teilbereichen der Schüler- und Lehrerschaft anzutreffen? – Mag auch unsere Stufe in dieser Hinsicht einen Extremfall darstellen, so ist doch das Vorhandensein derselben Symptome auf Schulebene nicht zu leugnen.
 
Um dies besser zu veranschaulichen, sollte man an dieser Stelle einen Blick auf die Anfänge unserer Schulzeit am Wilhelm-Gymnasium werfen. Natürlich sind wir uns der Tatsache bewusst, dass ein solcher Rückblick aufgrund der zeitlichen Distanz sowie aufgrund der frühen Entwicklungsphase, in welcher wir uns befanden, leicht ins Verklärende oder Idealisierende abgleiten kann. Trotzdem lassen sich zwei prägnante Unterschiede zur heutigen Situation festhalten:
 
So war zwar das Lehrer-Schüler Verhältnis nie völlig konfliktfrei, fusste aber auf etwas, was wir ein „inniges Verhältnis“ nennen möchten, welches sich in einer starken Verständnisbereitschaft, in Kompromissfähigkeit und gegenseitigem Interesse zeigte. – Das zweite: Sowohl der passiven Teilnahme als auch der aktiven Gestaltung von unterrichtsexternen Veranstaltungen wie Theaterprojekten, Sport-AGs und musikalische Abenden wurde mehr Wert beigemessen. – Dabei soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass für begeisterungsfähige und interessierte Schüler am Wilhelm-Gymnasium heute keine Angebote bestünden,
– im Gegenteil, sie sind vorhanden; doch leiden sie zusehends unter steigendem Desinteresse weiter Teile der Schülerschaft.
 
Dieser Problematik liegt sicherlich nicht nur eine Ursache zugrunde, sondern sie entspringt mehreren Faktoren. Vielleicht der bedeutendste könnte der Zustand einer gewissen Identitätskrise am Wilhelm-Gymnasium sein. Lassen Sie uns versuchen, im folgenden diesen Begriff der „Identitätskrise“ zu erläutern. In den letzten Jahren haben wir Schüler an unserer Schule in zunehmendem Masse das Gefühl von „gelebter Schule“ vermisst. Immer weniger sehen sich die Schüler als aktiven und wichtigen Teil unserer Schule; sie ziehen sich in Teilnahmslosigkeit und Desinteresse zurück. Sie begreifen Schule nicht mehr als Ort einer Gemeinschaft, als Ort, an dem sie vor allem auch ihre menschliche Prägung erhalten, sondern in immer stärkerem Umfang nur als
„Lernschmiede“.
 
Hier müsste die Schule ansetzen, um den Schülern die Traditionen, also die Werte und Normen, für welche der Name „Wilhelm-Gymnasium“ steht, zu vermitteln. Denn das grundlegende Problem ist nicht etwa, dass diese Werte nicht vorhanden seien, sondern dass es an der Information hapert, dass die Kommunikation und die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Lehrern, Eltern und Schülern optimiert werden muss.
 
Dies zeigt sich auch am Bespiel des „Club of Rome“: Einige werden über dieses Thema Bescheid wissen, die meisten wohl nur in rudimentären Umfang. Weitreichende Informationen können und wollen wir an dieser Stelle nicht geben, nur so viel: Die Kommunikationsdefizite wurden hier in so drastischer Weise deutlich, dass sogar Teile der Lehrerschaft nur unzureichend Auskunft über das Prinzip „Club of Rome“ geben konnten. Eben diese Verwirrung um „Club of Rome“ ist es, die der Integrität unserer Schule in der momentanen Situation am meisten schadet. Oberste Priorität muss damit die Tilgung eben jener Unsicherheit sein, sowie die Bildung neuer Integrationsklammern, deren Entstehen von der selbstbewssten Umsetzung der Leitgedanken des „Club of Rome“ abhängt. Erfolgversprechend könnte hierbei eine flexible und effiziente Kombination alter Denkstrukturen und neuer Methoden sein. Wann immer wir als nunmehr Ehemalige des Wilhelm- Gymnasiums unseren Beitrag zur †Überwindung der momentanen Problematik leisten können, werden wir aus †Überzeugung mit anpacken!
 
Wir danken allen Lehrern – auch wenn sie heute bedauerlicherweise verhindert sind -, die uns angeregt haben, die unsere Neugierde und Motivation geweckt und unsere Kreativität gefördert haben und im Sinne unseres humanistischen Schulprofils dazu beigetragen haben, dass wir uns als Kosmopoliten zeigen werden.
 
 
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Rundschreiben an die Ehemaligen. 6. April 2005

An die Mitglieder, Ehrenmitglieder und Freunde unserer Vereinigung, – insbesondere – wie alljährlich – schon jetzt an alle, die von der Schule für den ersten Sonnabend im September zum Abiturjubiläum eingeladen werden: die Abiturienten und Abiturientinnen von 1935, 1945, 1955, 1965, 1975, 1980, 1985, 1995 und 2000.
 
Wie gewohnt: unser Rundschreiben zum Beginn des neuen Jahres, darin die übliche Bitte um die Überweisung des Jahresbeitrags, die übliche Einladung zur Hauptversammlung usw. usw., – alles diesmal ein wenig verspätet und am Ende: fast ein wenig langweilig.
 
Was man sich statt dessen wünscht? Was wir uns wünschen? – Ein „Mitteilungsblatt“, wie früher üblich, ein Heft, das damals drei- oder viermal im Jahr an alle Mitglieder verschickt wurde und in dem reichlich Platz und – dies am wichtigsten – auch ein entsprechender Rahmen war für Beiträge der verschiedensten Art, von verschiedensten Autoren: über die Schule, über die Ehemaligen, über die Schulgeschichte, über Schulpolitik und vieles andere mehr. Das ist zur Zeit nicht zu finanzieren: Fast unser gesamter Jahresetat würde – bei der inzwischen viel grösseren Zahl der Empfänger – allein für die Portokosten draufgehen. – Dabei ist nicht einmal sicher, dass das Interesse dafür besonders gross wäre. Die Schule produziert nämlich seit etwa einem Jahr ein solches Heft für die Eltern unserer Schüler und Schülerinnen, nicht sehr professionell hergestellt, aber immerhin akzeptabel und mit einigen guten und lesenswerten Beiträgen. – Unsere Erfahrung? – Wir haben den Ehemaligen mehrmals angeboten, ein Exemplar dieses Heftes kostenfrei per Post zu erhalten. – Ergebnis:
fast null: eine einzige Anforderung. – Ähnlich ging uns uns mit den amerikanisch aufgemachten „Jahrbüchern“, die ein paar Jahre lang an unserer Schule produziert wurden: Kein Interesse.
 
Woran es liegt? – Unser Sohn Stephan, erfolgreicher Computerfachmann, formuliert es so: „Die jungen Leute, – alle, die heute erfolgreich sind im Beruf, wollen kein Papier mehr, sie holen sich alles aus dem Internet.“ – Ich glaube ihm nicht, denn ein gut gemachtes Buch hat für die meisten auch heute noch einen ganz anderen Stellenwert als eine Internetseite. – In einem anderen Punkt allerdings – und daran denkt er auch – hat er gewiss
recht: Was die Herstellung angeht, da ist jeder Text im Internet unendlich viel bequemer, unendlich viel aktueller und: immer fast kostenlos.
 
Wir haben uns, wie Sie wissen, darauf eingestellt und eine umfangreiche und gut funktionierende Homepage in Gang gebracht: www.ehemalige-wg.de; – die Zahl der dort publizierten Texte (darunter viele Edelsteine) ist inzwischen geradezu riesig, die Listen unserer Mitglieder und unserer Jubilare sind stets aktuell, und für alle, die es nutzen wollen, steht mühelos ein „Schwarzes Brett“ zur Verfügung; – dazu, zum Vergnügen: 32 farbige Fotos von der Schule. – Unser Kummer dabei: Wir erreichen nur knapp die Hälfte unserer Mitglieder. Für alle
anderen bleibt nur dieses karge Rundschreiben – und als Fernziel eben ein neues, vielleicht demnächst wieder realisierbares „Mitteilungsblatt“ (s.o.).
 
Ein zweites: An alle, von denen wir eine e-mail-Adresse besitzen, schicken wir gelegentlich kurze aktuelle Nachrichten (nicht zu oft, um nicht lästig zu fallen), auch Hinweise auf längere Texte, die unter einer unserer Rubriken im Internet zu finden sind, aber auch hier erreichen wir wieder nur knapp die Hälfte unserer Mitglieder. – Daher unsere Bitte: Wenn Sie eine e-mail-Adresse haben, nennen Sie uns Ihre Adresse: Sie bekommen dann gelegentlich Nachrichten von uns, – und (dies ein zweiter Gesichtspunkt): Sie helfen uns damit, viel Geld und viel Arbeit zu sparen, weil wir Texte wie diesen Rundbrief Ihnen dann per e-mail schicken können: kein Porto, keine Arbeit beim Zusammenlegen, Eintüten, Sortieren usw.
 
Nach diesem leichten Lamento die üblichen Punkte:
 
(1) Jahresbeitrag 2005 (betrifft nur die ordentlichen Mitglieder). – Der Mindestbeitrag beträgt nach wie vor EUR 15,– (für Mitglieder in Berufsausbildung EUR 5,–). – Ob wir Sie als „ordentliches Mitglied“ führen, sehen Sie an der Mitgliedsnummer (12 …) und auch am Ende dieses Schreibens; dort auch der Stand Ihrer Beitragszahlung. – Wir danken allen, die den Beitrag schon von sich aus überwiesen haben, z.T. mit erheblich erhöhten Beträgen, – und insbesondere allen, die zwar nicht Mitglied sind, aber von sich aus eine Spende geschickt haben. – Grundsätzlich stellen wir unaufgefordert für derartige Spenden und ausserdem für jeden Eingang ab EUR 25,– eine individuelle Spendenbescheinigung aus. Sollte diese Bescheinigung irgendwo nicht richtig eingegangen sein, so bitten wir um Entschuldigung und um eine kurze Nachricht; – ebenso, wenn uns sonst bei der Verbuchung ein Fehler passiert ist.
 
(2) Jubilare 2005. – Als Termin für das alljährliche Jubiläumstreffen hat sich seit mehreren Jahren der erste Sonnabend im September eingespielt, dieses Jahr also Sonnabend, 3. September. Seit dem vorigen Jahr ist zudem vereinbart, dass wir uns die Durchführung mit der Schule teilen: Wir, die Ehemaligen, übernehmen die Korrespondenz mit den Jubilaren, das Aufspüren fehlender Anschriften usw., – die Schule ist zuständig für die offizielle Einladung an ihre ehemaligen Abiturienten und für die Gestaltung des Jubiläumstages (Essen, Trinken, Führung durch die Schule usw.), – wobei auch hier ein gewisser finanzieller Zuschuss von unserer Seite möglich sein soll (sofern die Hauptversammlung dem zustimmt).
 
Alle, die in diesem Jahr zu unseren Jubilaren gehören, finden eine Liste ihres Jahrgangs im Internet (ehemalige-wg.de unter „Jubilare“, dort allerdings ohne Anschriften und nur, wenn wir zu ihnen Kontakt haben). – Alle Beteiligten erhalten ausserdem in den nächsten Wochen von uns eine vollständige Anschriftenliste ihres Jahrgangs, – mit der Bitte, uns bei Fehlern und Lücken Nachricht zu geben. – Und als Krönung kommt dann, vermutlich im Juni, die offizielle Einladung der Schule. – Auf den ersten Blick viel Aufwand, aber wer den
Tag einmal erlebt hat, weiss, dass der Aufwand sich lohnt.
 
(3) Festschrift 1981. – In dem beigefügten Faltblatt lesen Sie, dass die Festschrift von 1981, in der damals aus Anlass unseres Schuljubiläums die ersten hundert Jahre Wilhelm-Gymnasium dokumentiert wurden, restlos vergriffen ist. Wir haben in der Schule noch genau ein Exemplar, das reihum an Interessenten verliehen wird. Es liegt auf der Hand, dass wir versuchen wollen, das Buch nachzudrucken, eventuell mit Ergänzungen und Korrekturen (z.B.: Abiturientenlisten bis zur Gegenwart fortgeführt), aber im wesentlichen unverändert. Ein gutes Angebot der Druckerei Dürmeyer, die damals den Druck besorgt hat, liegt uns vor, aber – wir können es uns nicht leisten, ein finanzielles Abenteuer einzugehen.
 
Wir haben daher in einer Vorstandssitzung der „Ehemaligen“ beschlossen, die Neuauflage nur dann in Auftrag zu geben, wenn die Finanzierung gesichert ist. Das bedeutet: Der Herstellungspreis muss im wesentlichen durch den Verkauf gedeckt sein. Bei einer Auflage von 1.000 Exemplaren, bei 1.000 verkauften Exemplaren
und einem Preis von EUR 20,– je Exemplar wäre die Sache geregelt. – Bei 500 Exemplaren sähe es schon schwieriger aus.
 
Es bleibt uns also nur der Weg über eine Art Subskription. – Die Aussichten scheinen uns nicht schlecht: Von den rund 600 Eltern, die jetzt einen Sohn oder eine Tocher am WG haben, besitzt kaum jemand ein Exemplar. Von den rund 600 Abiturienten, die nach dem Erscheinen der Festschrift das WG verlassen haben, auch kaum jemand. Und im nächsten Jahr, wenn das WG sich wieder in einer Festwoche präsentieren muss (125 Jahre Wilhelm-Gymnasium), gibt es sicher auch eine grosse Anzahl von Interessenten.
 
Das ist aber alles nicht sicher. Daher unsere Bitte: Wenn Sie bereit sind, nach Erscheinen der Neuauflage ein Exemplar zu kaufen, dann teilen Sie uns das mit:
 
entweder: per Post (Ehemalige WG, Klosterstieg 17, 20149 Hamburg);
 
oder: telefonisch (415 20 20; 47 88 29; 0177/251 98 59);
 
oder: per Fax (415 20 218);
 
oder: per e-mail (ehemalige@wilhelm-gymnasium.de);
 
oder: persönlich.
 
Wir werden die Vorbestellungen dann sichten und Ihnen Nachricht geben, ob die Neuauflage erscheinen wird, vermutlich schon ziemlich bald. – Sie könnten das Buch dann in der Schule abholen oder sich per Post zustellen lassen, wie Sie es wünschen. – †Überweisen Sie aber bitte im Moment noch kein Geld für die Bücher, sonst müssten wir ggf. alles zurücküberweisen.
 
Sollten Sie allerdings helfen wollen, die Neuauflage der Festschrift durch eine Sonderspende zu finanzieren, dann überweisen Sie Ihre Spende auf das Sonderkonto, das wir zu diesem Zweck bei der Vereinsbank eingerichtet haben:
 
Ehemalige WG Sonderkonto Festschrift
 
Hypovereinsbank Hamburg (200 300 00): 252 30 251
 
Wenn aus dem Projekt trotz aller Bemühungen nichts wird, erhalten Sie die Spende zurück.
 
Der Schulverein und der Verein der Ehemaligen, die gemeinsam das Copyright für die Festschrift haben, können aus ihrem laufenden Etat die Finanzierung nicht bestreiten. Sie sind allerdings bereit, im Rahmen eines befristeten Darlehens eine vorläufige Finanzierung zu gewährleisten. – Wir hoffen sehr, dass das Projekt
gelingt. Ohne die Hilfe aller Beteiligten (und das heisst hier: aller Interessierten) können wir aber nichts tun.
 
Geplant ist natürlich ausserdem die Herstellung einer zweiten, vermutlich sehr viel schmaleren Festschrift, deren Thema die Entwicklung der letzten 25 Jahre und vor allem das Erscheinungsbild des Wilhelm-Gymnasiums im Jahre 2006 sein müsste. Manche schwärmen schon jetzt davon, wie man diese beiden
Bücher – im hübschen Doppelpack und mit Banderole versehen – in der Festwoche verkaufen könnte.
 
Im Zusammenhang mit der Festschrift übrigens ein später Dank an die Klasse, die damals, vor etwa 25 Jahren, sich die Sache zu eigen gemacht hatte: Es war die ehemalige 10c, später Vc, die damals mit Elan, Phantasie, Begeisterung und Ausdauer an die Arbeit gegangen ist: angefangen von der Sichtung und Sortierung des umfangreichen und bis dahin gänzlich ungeordneten Archivmaterials (u.a. an mehreren Wochenenden in unserem alten Schullandheim in Schobüll, mit feierlicher „Archiveröffnung“), – über die eigentliche Herstellung der Festschrift bis hin zu der legendären Ausstellung des gesamten Archivmaterials während der Festwoche in der Pausenhalle (August 1981).
 
(4) Einladung zur Hauptversammlung:
 
Die nächste Hauptversammlung findet statt am
 
Donnerstag, 21. April 2005, 20.00 Uhr, im Wilhelm-Gymnasium
 
Tagesordnung:
 
1. Bericht des Ersten Vorsitzenden, Dr. Hans Nölting;
 
2. Bericht des Schatzmeisters, Dr Peter-Rudolf Schulz;
 
3. Bericht der Rechnungsprüfer;
 
4. Entlastung des Vorstandes;
 
5. Neuwahl des Vorstandes und der Rechnungsprüfer;
 
6. Besprechung über die weitere Arbeit der Vereinigung.
 
Nölting (Erster Vorsitzender)
 
Wie immer: herzlich grüssend, mit Dank für Ihr Interesse: Schulz
 
 
Bescheinigung (zur Vorlage beim Finanzamt):
 
Der Verein „Ehemalige Wilhelm-Gymnasiasten e.V.“ ist nach dem letzten Freistellungsbescheid des Finanzamtes Hamburg-Mitte-Altstadt (StNr. 17/422/09128; vom 8.5.2003) nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes von der Körperschaftsteuer befreit. – Wir bestätigen, dass wir die Zuwendung
nur zur Förderung der Erziehung (im Sinne der Anlage 1 – zu § 48 Abs. 2 Einkommensteuer-Durchführungsverordnung – Abschn. A Nr. 4) verwenden werden.
 
Nölting (Erster Vorsitzender) – Schulz (Schatzmeister).
 
 
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Wulf Rodewald (Abit. WG 1954): Ansprache an die Abiturienten, 21. Juni 2004

Mit der folgenden Ansprache hat jetzt – in ununterbrochener Folge – zum vierten Mal einer unserer Ehemaligen zu den frischen Abiturienten und Abiturientinnen gesprochen. – Der erste Redner (Juni 2001) war ein Biochemiker aus Konstanz, – der zweite (Juni 2002) ein Jesuit aus Rom, zugleich Professor für Neues Testament, – der dritte (Juni 2003) ein Journalist aus Hamburg, Chefredakteur beim Hamburger Abendblatt, – der vierte (Juni 2004) nun also: ein Versicherungsfachmann aus Hamburg.
 
Wir versuchen, wie man sieht, durch die Auswahl der Redner zu dokumentieren, wie verschieden die
Berufswege sind, die man nach neun Jahren Wilhelm-Gymnasium einschlagen kann.

 
Alle Ansprachen, mit Ausnahme der ersten, sind hier zu lesen; bei der ersten ging es leider nicht, denn der Redner hatte zwar ein Manuskript mitgebracht, hat dann aber – unter dem Eindruck der frischen Abiturienten – , sozusagen aus dem Stegreif, ganz anders geredet, als er es sich vorgenommen hatte.
 
Hier jetzt also die Ansprache des Jahres 2004:
 
Liebe Abiturienten, sehr geehrte Damen und Herren,
 
als erstes möchte ich Ihnen, den Abiturientinnen und Abiturienten, herzlich zum bestandenen Abitur gratulieren. Diesen Erfolg wollen Sie heute mit Ihren Eltern und Lehrern feiern, und ich freue mich, dass ich als „Goldener“ Abiturient dabei sein kann, um deutlich zu machen, dass das Wilhelm-Gymnasium eine Schule mit langer Tradition ist.
 
Ich habe 1954 im altsprachlichen Zug Abitur gemacht, habe anschliessend Mathematik und Naturwissenschaften studiert und dann als Mathematiker in einem Versicherungsunternehmen angefangen. Im Laufe des Berufslebens habe ich verschiedene Funktionen gehabt, bin aber in der Versicherungsbranche
geblieben. – Kein ungewöhnlicher Lebenslauf also, es sei denn, man sieht es als ungewöhnlich an, dass ich als Absolvent eines humanistischen Gymnasiums in der Versicherungswirtschaft gelandet bin, wo humanistische Bildung nicht gerade Voraussetzung für eine Karriere war. –  Aber das ist eine besondere
Geschichte.
 
In der Liste meines Abi-Jahrganges finden sich auch einige Professoren, und einer von ihnen wäre sicher ein besseres Beispiel dafür, wie weit man es als Abiturient des Wilhelm-Gymnasiums bringen kann. Aber Dr. Schulz meinte, nicht jeder von Ihnen wollte unbedingt Professor werden, – und ein akademischer Vortrag würde heute nachmittag auch nicht unbedingt besondere Begeisterung auslösen. – So ist mir die Rolle zugefallen, zu Ihnen zu sprechen, und ich will mich darauf beschränken, Ihnen einen Eindruck zu geben, wie ich vor 50 Jahren die Schule erlebt habe.
 
1954 also habe ich Abitur gemacht. – „Heute werden Sie ins Leben entlassen“, hiess es bei unserer Verabschiedung. – Sie, die Abiturienten von heute, würden über einen solchen Satz wahrscheinlich lächeln. Denn mancher von Ihnen hat vom Leben ausserhalb der Schule vermutlich schon mehr gesehen, als Ihre Eltern ahnen. Aber für uns war der Satz mehr als nur eine Floskel. Denn bis dahin beschränkte sich unser Erfahrungshorizont im wesentlichen auf die Schule. – Nun endlich konnten wir das Leben kennenlernen.
– Wir probierten das auch gleich aus und zogen am Abend des mündlichen Abiturs gemeinsam einmal die Reeperbahn rauf und runter; – nein, von innen haben wir ein Stripteaselokal nicht gesehen, denn mit 19 waren wir damals noch nicht volljährig.
 
Die Schule, in den Jahren von 1948 bis 1954, in denen ich das WG besuchte, war geprägt durch die besondere Situation der Nachkriegszeit. Viele Lehrer waren als Soldaten im Krieg gewesen, aber kaum einer sprach über diese Zeit. Die Lehrer verhielten sich in dieser Beziehung nicht anders als unsere Väter, die – von Ausnahmen abgesehen – auch nicht über ihre Kriegserlebnisse und schon gar nicht über ihre politische Einstellung im Dritten Reich sprachen. – Und wir fragten auch nicht.
 
Die Welt, mit der wir uns im Unterricht beschäftigten, war nicht die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit, sondern die Antike. Den Ablauf des Peloponnesischen Krieges kannten wir besser als die Geschichte des 20.Jahrhunderts. Kam ein neuer Geschichtslehrer, fing er wieder bei den Griechen und Römern an. – Offenbar waren die Lehrer unsicher, wie sie die Nazizeit im Unterricht behandeln sollten.
 
Auch wir Schüler hatten das Dritte Reich und den Krieg ja noch bewusst erlebt. – Als ich 1941 in die erste Klasse der Grundschule kam, musste ich – schon als sechsjähriger Knirps – zum Hitlergruss strammstehen, wenn der Lehrer die Klasse betrat, und im Unterricht sangen wir Marschlieder und „Bomben auf Engelland“, – auch, als schon die Bomben auf Hamburg fielen und wir die Nächte im Luftschutzkeller verbrachten. – Vier Jahre später war das vorbei, – aber im Zeugnis gab es weiterhin Noten für Betragen und für Fleiss. – Die Lehrer waren ja noch dieselben.
 
Wahrscheinlich sind diese Kindheitserfahrungen die Erklärung dafür, dass wir – nach meiner Erinnerung – ziemlich ernste Schüler waren, – und: dass es uns nicht schwerfiel, uns anzupassen.  – Ein Beispiel: Als unser Deutschlehrer eines Tages auf dem Weg zur Schule fast von einem Auto überfahren worden wäre, liess er uns spontan einen Aufsatz schreiben, mit dem Thema: „Hat der Fussgänger noch Daseinsberechtigung?“ – Und was meinen Sie, zu welchem Ergebnis wir kamen, damals, 1951, als es noch kaum Autos
gab? – Dass es um die Zukunft des Fussgängers tatsächlich schlecht bestellt sei. – Wir wussten ja, was unser Lehrer lesen wollte.
 
Denn eines wurde uns nicht beigebracht: eine eigene Meinung zu vertreten und uns mit den Meinungen anderer kritisch auseinanderzusetzen. Einem Lehrer – als Autoritätsperson – zu widersprechen, war nicht nur unüblich, sondern für manchen Lehrer sogar ungehörig.
 
܆brigens machte ich dann auf der Universität und später im Berufsleben ähnliche Erfahrungen: Wenn man vorankommen wollte, musste man sich anpassen. Widerspruch schadete der Karriere. – Zum Glück hat sich diese Einstellung im Laufe der Jahre gewandelt.
 
Neben Lehrern, die hohe Anforderungen stellten und deshalb nicht unbedingt geliebt wurden, gab es auch einige, bei denen uns der Unterricht Spass machte. Einer davon war unser Erdkundelehrer, Dr. Cierpinski, der seinen Unterricht durch kleine Geschichten aufzulockern pflegte. Wir kannten sie alle auswendig. Eine handelte von dem Aufstand der Hereros, 1904, in Südwestafrika, der nach der Erzählung von Dr. Cierpinski dadurch ausgelöst worden war, dass die deutschen Kolonialtruppen Ochsen geschlachtet hatten, in denen nach den Vorstellungen der Hereros der Geist ihrer Grossmütter steckte. – Wir sprachen uns nun vor der Erdkundestunde ab, dass wir heute – beispielsweise – wieder einmal diese Geschichte hören wollten. Wurde also im Unterricht gerade Grönland behandelt, so kam es darauf an, Dr. Cierpinski durch geschickte Fragen gedanklich langsam von Grönland weg nach Südafrika zu locken, bis er dann zum x-ten Mal die Geschichte vom Hereroaufstand erzählte. – Das mit möglichst wenigen Fragen zu erreichen, war für uns immer wieder eine
Herausforderung.
 
Heute wird als vorrangiges Bildungsziel die Entwicklung der Persönlichkeit angesehen. – Damals stand die Wissensvermittlung im Vordergrund. – Und ich habe im Wilhelm-Gymnasium wirklich viel gelernt. – Wenn ich mir gelegentlich auf RTL die Ratesendung mit Günter Jauch ansehe, will meine Frau mich immer ermuntern, einmal mitzumachen: „Du könntest mit Leichtigkeit 125.000 Euro gewinnen“, sagt sie dann, „bei deinem Wissen“. – Das meiste davon ist Wissen aus der Schulzeit. – Ich werde mich trotzdem nicht melden. – Spätestens
bei der Frage: „Wie heisst der Frontmann der Gruppe Smokie?“ müsste ich passen.
 
Ich habe mir die Frage gestellt, ob ich gern zur Schule gegangen bin. Offen gestanden: Ich weiss es nicht mehr. – Allerdings hatte ich, dank eines stengen Vaters („Ohne Fleiss kein Preis!“), meist gute Noten und wenig Probleme mit der Schule. – Ob ich die Schule deshalb gemocht habe, kann ich nicht sagen. – Schlechte Erinnerungen habe ich jedenfalls nicht.
 
Ich habe aber Grund, der Schule zu danken, – zu danken dafür, dass sie mein Interesse geweckt hat für Literatur, für Geschichte und für fremde Sprachen. In der Beschäftigung damit und in der Musik fand ich den notwendigen Ausgleich zum nüchternen Berufsalltag.
 
Geblieben ist mein ganzes Leben lang die Begeisterung für die Antike. Einen Dialog von Platon zu lesen, heute auf Deutsch, bereitet mir noch immer Vergnügen, und wenn ich ans Mittelmeer reise, gilt mein besonderes Interesse den antiken Bauwerken, sei es in Italien, Spanien, Griechenland oder in der Türkei.
 
Gern erinnere ich mich an ausserschulische Veranstaltungen, an die Klassenfahrten (die damals noch nicht ins Ausland gingen), an die zahlreichen Konzerte mit dem Schulchor, mit dem ich dreimal sogar auf dem Podium der Hamburger Musikhalle stand, und an die Aufführung der Antigone in griechischer Sprache (bei der übrigens die weiblichen Rollen ebenfalls von männlichen Darstellern gesprochen wurden, nicht nur, weil dies der antiken Aufführungspraxis entsprach, sondern auch, weil es Mädchen am Wilhelm-Gymnasium damals noch nicht gab). –
 
Ich wünsche Ihnen, den heutigen Abiturientinnen und Abiturienten, dass die guten Erinnerungen überwiegen, wenn Sie in einigen Jahren an Ihre Zeit am WG zurückdenken. Jetzt ist Ihr Blick erst einmal nach vorne gerichtet, auf die Vorbereitung auf den von Ihnen gewählten Beruf. – Als wir 1954 die Schule verliessen,
standen uns, im Zeichen des Wirtschaftswunders, alle Möglichkeiten offen. – Da sind die Startbedingungen für Sie heute schwieriger. – Aber mit Kreativität, Mut und Ausdauer werden Sie Ihren Weg schon gehen. – Dafür wünsche ich Ihnen viel Glück und Erfolg.


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Urkunde zur Grundsteinlegung unseres neuen Oberstufengebäudes

Der folgende Text – eher ein kleiner Scherz – wurde für die kleine Feier zur Grundsteinlegung des neuen Oberstufenhauses gebastelt, wurde dort, am 23. Mai 2003, verlesen, auch ein wenig kommentiert, und zum Schluss – liebevoll gesetzt und gedruckt – in die Fundamente eingemauert.
 
Anno p. Chr. n. MMIII a. d. X. Kal. Iun. (23. 5. 2003),
cum Ole von Beust
civitati liberae Hamburgensi praeerat,
anno centesimo vicesimo tertio
post quam haec schola,
cui postea ex Guilelmo primo
Imperatore nomen inditum WilhelmGymnasium,
sub auspiciis Gustavi Henrici
Kirchenpauer portas suas aperuit (25. 4. 1881),
 anno quadragesimo tertio
post quam Henricus Landahl et Franciscus Bömer
his locis (Klosterstieg
17) primarium lapidem novis aedibus posuerunt
puerorum puellarum honeste
liberaliterque docendorum educandorum causa (3. 7. 1961),
 hic, ubi quondam in arboribus
umbrosis cantus avium audiebatur,
iterum primarium hunc lapidem
novis aedibus posuimus,
quae superiorum classium
labori ac instructioni dedicentur ac destinentur, –
 
gratias referentes maximas senatui populoque Hamburgensi,
 
qui has aedes sumptibus publicis exstruendas curaverint.
 Adfuerunt magistri discipuli
parentes, confisi triste ac difficile provisoriorum tempus
brevi finitum iri.
 
Quod bonum faustum fortunatumque siet
 
Der Text, absichtlich formuliert in der altertümlich-umständlichen Art lateinischer Urkunden,
besagt im einzelnen, dass
 
am 23. Mai 2003, lateinisch gezählt: am zehnten Tag vor den Kalenden des Juni, ante diem decimum
Kalendas Iunias
(wie es in falscher Grammatik heisst), – im Jahre 2003 nach Christi Geburt, anno bis millesimo tertio post Christum natum,- als Ole von Beust Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg war, –
 
im 123. Jahr, nachdem diese Schule (die nachträglich nach Kaiser Wilhelm I. den Namen Wilhelm-Gymnasium
erhielt) unter der Amtsführung des Bürgermeisters Gustav Heinrich Kirchenpauer ihre Pforten geöffnet hatte, –
 
im 43. Jahr, nachdem Heinrich Landahl und Franz Bömer an dieser Stelle (Klosterstieg 17) den Grundstein
für unser neues Schulgebäude gelegt hatten, auf dass daselbst „Jungen und Mädchen in Freiheit und Achtung vor ihrer Person unterrichtet und erzogen werden sollten“ (Zitat aus der damaligen Urkunde), –
 
dass an diesem Tage also wir (gemeint: die Schulgemeinschaft des Wilhelm-Gymnasiums) – hier (gemeint:
an der Stelle, wo noch vor kurzem der Bunkerhügel sich erstreckte und wo man „in schattigen Bäumen den Gesang der Vögel hören konnte“ …
 
und in den Pausen natürlich das ausgelassene Lärmen unserer Sextaner) – wiederum diesen Grundstein für ein neues Gebäude gelegt haben, welches für die Arbeit und den Unterricht der oberen Klassen bestimmt sein soll..
 
Wir taten dies in Dankbarkeit gegenüber dem Senat und der Bürgerschaft von Hamburg, die dieses Haus auf
Staatskosten haben errichten lassen.
 
Anwesend bei dem Festakt waren Lehrer, Schüler und Eltern, – in der festen Zuversicht, dass die schwierige
Zeit ständiger Provisorien jetzt in Kürze beendet sein wird.
 
Dies alles möge gut, glücklich und von Segen geleitet seinen Lauf nehmen!
 
Zur †Übersetzung der Schlussformel QBFFS, oft mit dem Zusatz felix, also QBFFFS, vgl. die erste Seite
aus den allerersten Schulnachrichten von 1881/1882 (Faksimile: Festschrift 100 Jahre Wilhelm-Gymnasium, 1981, S.8).
Schulz
 
 
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Nachruf auf Franz Bömer

Franz Bömer, den meisten, die ihn noch kennen, eher bekannt als „Prof. Bömer“ – oder schlicht: „Bömer“ -, ist am 27. Januar dieses Jahres in hohem Alter gestorben.
 
Franz Bömer: Wie war er ans WG gekommen?  Er, „ein Katholik aus Bonn“, wie es in einem Brief von damals, mit deutlicher Reserviertheit, noch heute zu lesen ist? –
 
Es war der damalige Oberschulrat Hans Wegner, der ihn sozusagen „entdeckt“ hatte, – zuerst am Rande einer Tagung in Walsrode in der Lüneburger Heide, dann bei einem Altphilologentreffen in Paris. – Hans Wegner – vielen aus unzähligen Abiturprüfungen noch bekannt als ein rundlicher, gemütlicher, sichtbar gelassener, dabei durchaus souveräner Mensch, mit einigen Schrullen -, Hans Wegner hatte offensichtlich das sichere Gespür, in Bömer jemanden gefunden zu haben, der das WG aus seiner tiefsten Krise retten könnte. Man kann sich nur ausmalen, was er Bömer damals erzählt hat, um ihn für diese Aufgabe zu gewinnen: Das Wilhelm-Gymnasium, für viele das renommierteste (oder doch immerhin: das zweitrenommierteste) Gymnasium in Hamburg: am Rande des Aussterbens, weil der Senat ihm, nach Krieg, Ausbombung und Verlust des eigenen Gebäudes, kein neues Gebäude verschaffen wolle, weil die Schule, in wechselnder Untermiete, fern von ihrem eigentlichen Einzugsgebiet, nur noch dahinvegetiere, – und weil ihr die Schüler wegblieben. – Auf den ersten Blick also: keine verlockende Aussicht für einen Menschen aus Bonn. – Aber dann hat Wegner es offenbar doch geschafft, ihn zu überreden: Die Sache sei wichtig, und Bömer sei richtig …
 
Es gab demnach, für heutige Verhältnisse kaum vorstellbar, keine Ausschreibung oder ähnliches, keine Bewerbung, sondern umgekehrt: die Behörde, vertreten durch Wegner, warb um ihn, den ausgesuchten Kandidaten, und versuchte, ihn zu gewinnen.
 
Bömer kam dann also, aus Bonn, – aber nicht, ohne vorher, der Form halber, eine Probestunde seines Unterrichtens ablegen zu müssen. – Mein persönlicher Anteil daran: Ausgerechnet meine Klasse, in der ich damals Schüler war, die G 13, kurz vor dem Abitur stehend, wurde ausersehen, diese Probestunde
zu bestreiten. – Fach: Latein. – Unser Klassenlehrer und Lateinlehrer: Werner Rockel. – Er hatte, wie wir alle wussten, starke Ambitionen, selbst Schulleiter am WG zu werden (und hatte manches dafür getan). Nun sollte
ausgerechnet seine Klasse zum Probeunterricht für den Fremden, den Mann aus Bonn, herhalten … – Was er uns am Tage davor eingeschärft hatte für die Probestunde (besonders gut zu sein, – oder eher spröde zu reagieren), weiss ich nicht mehr, ich weiss nur, dass mich persönlich die Sache so aufgeregt und so mitgenommen hat, dass ich am nächsten Tag krank war (und zwar wirklich, nicht vorgeschützt). – Ich fehlte also, habe die Probestunde nicht miterlebt, und weiss nur, dass Rockel hinterher meinte, es sei „eben eine übliche Lektürestunde“ gewesen, „nichts weiter“, – während andere sagten, hier habe jemand den Eindruck vermittelt, dass Unterrichten mehr sein könne als der übliche Lektüre- und Grammatikbetrieb, wie man ihn sonst gewohnt sei.
 
Bömer kam also ans WG, Mitte 1955, gerufen von der Behörde, mit manchen Widerständen rechnend, und machte seine Sache von Anfang an offenbar recht gut. Ich selbst war zu der Zeit nicht mehr am WG, studierte in Freiburg i.Br., erhielt aber gelegentlich Post von ehemaligen Lehrern, denen ich geschrieben hatte. Darunter Herbert Drude (den Brief habe ich heute noch): „Der neue Schulleiter regiert mit Weisheit und Zurückhaltung. Wir können nicht klagen.“ – Kann es eine grössere Anerkennung geben für jemanden, der in schwieriger Zeit
das schwierige und undankbare Amt eines Schulleiters auf sich nimmt?
 
Mehr soll hier jetzt nicht gesagt werden. – Alle, die das WG kennen, wissen, dass wir ohne Franz Bömer heute nicht am Klosterstieg sässen, – und dass es vielleicht sogar die Schule nicht mehr gäbe. – Dafür gebührt ihm Dank, – wobei freilich gesagt werden muss, dass die meisten, die heute am Klosterstieg ihren Dienst tun, als Schüler oder als Lehrer, von allen diesen Dingen nichts mehr wissen. – „Bömer? – Wer war denn das?“ – So ist das in unserer schnellebigen Zeit.
 
Unser Vorsatz: Wir wollen versuchen, an dieser Stelle einiges aus der damaligen Zeit in Erinnerung zu rufen. Wir würden gerne, wie früher üblich, ein gedrucktes Heft daraus machen, aber dafür reicht das Geld nicht. – Dass es nicht darum geht, Bömer zu ehren, ist für alle klar, die ihn kannten. Aber es geht um das WG und um die Geschichte des WG. Und da spielt er nun einmal eine wichtige Rolle, auch als Person.
 
Es soll deutlich werden, wie er taktieren konnte, – mit welcher Beharrlichkeit und welchem Geschick er die Behörde, den Elternrat, die Ehemaligen (bei denen allen er, trotz seiner Reserviertheit in menschlichen Beziehungen, gute und einflussreiche Freunde und Mitstreiter hatte), für das gewinnen konnte, was er für wichtig hielt,- mit welcher Anteilnahme er sich in die Schicksale und Lebensläufe einzelner Kollegen einfühlen konnte, sichtbar vor allem bei den vielen Abschieds- und Trauerreden, die er zu halten hatte, – und – dies leider auch, das gebietet die Ehrlichkeit – , wie hart und kalt er gelegentlich Eltern gegenüber auftreten konnte, die schwierigere Kinder hatten – und sich mit der Bitte um Hilfe an ihn wandten.
 
Einiges von dem, was hier zu berichten ist, wurde bereits vor dreissig Jahren, 1974, aus Anlass seiner Pensionierung zusammengestellt (Heft 48/49 unserer damals erscheinenden Mitteilungshefte; letzter Satz der Einleitung damals: „Auf jeden Fall dürfte für jeden unbefangenen Leser deutlich werden, dass diese zwei Jahrzehnte (1955 – 1974) mit all ihren Problemen in vielen Hinsichten eine ungewöhnlich reiche, interessante und intensive Epoche waren, in der es sich lohnte, dabeizusein.“).
 
Es gibt aber auch einiges, was bisher nirgends veröffentlicht ist. – Beides soll hier, in bescheidener Auswahl, vorgelegt werden. Und, wie üblich, unser Angebot: Wer die alten Texte (Heft 48/49) jetzt nachträglich haben will, möge es uns mitteilen; wir schicken Ihnen dann ein Exemplar. –
 
Wir beginnen diese Dokumentation mit einem Auszug aus Bömers Ansprache zum Dienstantritt.
 
1) Aus der Ansprache zum Dienstantritt (16. April 1955; noch in Untermiete im Gymnasium Eimsbüttel, heute Kaifu): –
 
„Da wir heute das Glück und die Ehre haben, einen Vertreter der Schulbehörde unter uns zu wissen, so möchte ich gleich in meiner ersten Ansprache einen Wunsch äussern, der – das verspreche ich – von nun an auch von meiner Seite nicht mehr verstummen wird, wie weiland das klassische ceterum censeo des alten Cato, – und hier bitte ich, eine Minute Nachsicht mit dem Schulmeister der alten Sprachen zu haben, – das ceterum censeo also, das bekanntlich lateinisch überhaupt nicht, sondern nur griechisch überliefert, einmal in neuerer Zeit falsch ins Lateinische rückübersetzt worden ist und richtig heissen muss: ceterum censeo Karthaginem delendam, – ohne das immer wieder eingefügte esse: censere steht nämlich im Normalfall mit dem doppelten Akkusativ, und wie wir den alten Cato kennen, hat er sich in seiner lapidaren Sprache das esse sicherlich geschenkt, – – und in diesem ceterum censeo bitte ich auch die Elternschaft um ihre Unterstützung, ich meine, in dem Ruf nach besseren Schulräumen, ja, nach einem anderen Gebäude. – Ich muss gestehen, dass ich seit der Währungsreform ein Schulgebäude in so schlechtem, für die mir bekannten rheinischen Verhältnisse einfach unvorstellbarem Zustand noch nicht gesehen habe.“
 
Jeder kann sich vorstellen, mit welchem Genuss, vielleicht verklärt lächelnd, die Zuhörer sich diese kleine, etwas verschrobene Lektion in lateinischer Syntax angehört haben, – und wie, was die Sache angeht, sich so manch einer gesagt haben mag: Hier muss jetzt dringend etwas getan werden, hier, jetzt, sofort … –
 
Beides war hinfort von Bömer zu erwarten, untrennbar: Beharrlichkeit im aktuellen Kampf um die Schule, ständige Suche nach kompetenten Mitstreitern, – dies alles aber gleichsam imprägniert und immer wieder versetzt mit griechischen und vor allem lateinischen Zutaten, – die für jeden, der es hören mochte, das eigentliche Aroma ausmachten, – und die, darüber hinaus, ständig daran erinnerten, worum es eigentlich ging. – Er verstand es, wie keiner vor ihm und keiner nach ihm, nicht nur auszusprechen, sondern zu vermitteln, spürbar zu machen, wo die geistige Heimat des Wilhelm-Gymnasiums angesiedelt sein sollte.
 
(2) Bömer, Schobüll und die Schüler. –
 
Auf den ersten Blick eine absurde Zusammenstellung. – Nicht auf den zweiten. – Lesen Sie, als kleines Beispiel, die lustige Episode auf den Fluren von Eimsbüttel, die Annette Otterstedt, als Reaktion auf unsere letzten Texte, spontan für unser Schwarzes Brett aufgezeichnet hat: Bömer und ein Sextanerkind, beide angriffslustig, beide munter, beide auf Streit gefasst, geschliffen und schlagfertig miteinander redend, dann natürlich: in verschiedene Richtungen verschwindend, aber: beide glücklich über den gelungenen Schlagabtausch: So war das damals, kurz vor unserem Umzug zum Klosterstieg. – Eine andere Reminiszenz (brieflich): Die strenge Hausordnung, erst in Eimsbüttel, dann aber vor allem am Klosterstieg, verlangte, dass die Schüler in den Pausen die Klassen verliessen und auf den Hof gingen. Keiner durfte in der Klasse bleiben! – Dies natürlich die willkommene Einladung und Herausforderung an die Schüler, sich überall in den Klassen und auf den Fluren zu verstecken und uferlose Geländespiele mit den aufsichtführenden Lehrern zu beginnen. – Hier nun die Erinnerung in dem genannten Brief: – Was tat Bömer? – „Mit sichtbarem Vergnügen, dabei aber durchaus streng und gebieterisch“, habe er die †Übeltäter hinter Vorhängen, Türen, auch aus Schränken hervorgezogen, – und zur Strafe „an den Koteletten gezwirbelt“ (was „durchaus ein bisschen weh tun konnte“), – wohl wissend, dass sie sich am nächsten Tag wieder verstecken würden.
 
Er kannte sie übrigens alle, nicht nur ihre Gesichter und ihre Namen. – Und das hing mit Schobüll zusammen, unserem Schullandheim, bei Husum, am Wattenmeer, auf dem Schobüller Berg, im Schobüller Wald. – Wenn es sich irgendwie einrichten liess, fuhr er Jahr für Jahr dorthin, mit den neuen fünften Klassen und ihren Lehrern, manchmal zwei-, dreimal, – und hinterher kannte er sie dann, alle. – Wie oft er insgesamt dort gewesen ist, lässt sich schwer ausrechnen, sicher weit über 50 mal, und irgendwie ist es seine zweite oder dritte Heimat geworden (neben Rom, wohin es ihn immer wieder zog).
 
Es gibt ein kleines Textdokument, in dem vieles aufgehoben und ausgesprochen ist, was ihn – und nicht nur ihn! – mit diesem Schullandheim in Schobüll verbunden hat: seine Ansprache bei der Beisetzung von Hans Paulsen (der, als Hausmeister, Heimleiter, oder wie man es nennen mag, zusammen mit seiner Frau, das Heim jahrzehntelang betreut hatte). – Datum: 9. Sept. 1966:
 
„Weil er bei seiner Arbeit die Liebe zur Jugend dazugegeben hat, waren für uns und für viele tausend Hamburger Kinder das Heim und Paulsens fünfzehn Jahre lang unzertrennlich, ein und dasselbe, das Dorf und die Nordsee, die Geest und das Watt, der Wind und der weite Himmel, der Regen und der Grog am Abend, das Geschrei einer lebensfrohen und ausgelassenen Jugend, für die er so viel Verständnis hatte. – Für die Schüler bedeutete seine Arbeit das Zusammenleben mit Gleichaltrigen, ein Stück Nordfriesland und wohl auch oft ein Stück sextanerhafter Räuberromantik, – und später die ein wenig sentimentale Erinnerung an eine schöne Zeit, – die in vielen Jungen und Mädchen mit die dauerhaftesten Erinnerungen ihrer jungen Jahre geprägt hat, – und die für manche sogar zu den schönsten Tagen ihres Lebens gehört hat.“
 
Es ist wie so oft bei solchen Texten: Man erfährt viel über den, von dem die Rede ist, – zugleich aber genau so viel, oft viel mehr, über den, der den Text geschrieben hat …
 
(3) Ansprache zumTode von Dr. Walter Gerhard. –
 
Es ist nicht geplant, es ist schlicht mit dem Fortgang der Texte in dieser Dokumentation verbunden: Die erste Ansprache, die Bömer, August 1955, nach dem Ende der Sommerferien, nur wenige Monate nach seinem offiziellen Dienstantritt, in der Aula der Schule Kaiser-Friedrich-Ufer, halten musste, – war die Ansprache zum Tode eines seiner Kollegen: Dr Walter Gerhard, der sich, gerade am ersten Tag der Sommerferien, das Leben genommen hatte. – Der Text dieser Ansprache erscheint jetzt hier (sorgfältig und gewissenhaft aus dem alten Redemanuskript abgeschrieben) am frühen Morgen des 5. Februar 2004: genau an dem Tag, an dem Bömer selbst auf dem kleinen Friedhof an der Kirchenstrasse in Garstedt beigesetzt wird:
 
„Wenn ich heute die Ehre und die Aufgabe habe, zum letzten Male vor Ihnen, verehrte Angehörige, und vor der Schulgemeinde über unseren verstorbenen Kollegen Dr. Walter Gerhard zu sprechen, so möchte ich und muss ich zu Beginn Ihre Gedanken um einige Monate zurückrufen.
 
Es war Sommer; wir hatten draussen in Ohlsdorf unseren auf so tragische Weise aus unserer Mitte gerissenen Kollegen Dr. Lenthe zu Grabe getragen, und nach der Gepflogenheit unserer Schule, die durch die zahlreichen Todesfälle der letzten Jahre zu einer leider schon häufiger gewordenen Tradition geworden war, waren wir am 30. Juni dieses Jahres hier, in der Aula, versammelt, um die Gedenkfeier für ihn zu begehen. – Die Ansprache des Tages hielt damals der Mann, dem die heutige Feier gilt: Dr. Walter Gerhard.
 
Acht Tage nach dieser Feier war er selbst nicht mehr unter den Lebenden: Da standen wir wieder draussen in Ohlsdorf, dieses Mal nur ein kleiner Kreis: seine Angehörigen, seine Freunde – und wir, einige vom WG: wenige, nicht viele, – denn es waren Sommerferien, nur wenige Kollegen, kaum einige Schüler erreichbar; auch von seiner Klasse 9a waren fast alle verreist: nur ganz wenige hatten vom Tode ihres Klassenlehrers erfahren …
 
Mir aber, der ich ihn noch nicht drei Monate gekannt hatte, wurde die Aufgabe zuteil, damals an seinem Sarge und heute vor der Schulgemeinde zu sprechen. – Und als ich mir in den 24 Stunden, die mir damals im Juli
blieben, zwischen dem Empfang der Nachricht und  der Trauerfeier in Ohlsdorf, meine Gedanken für die Ansprache an seinem Sarge sammelte, … da kam mir immer wieder seine Ansprache auf unseren Kollegen Lenthe in den Sinn, die gerade erst vierzehn Tage alt war und die uns allen noch so lebendig vor Augen stand.
 
Ihr alle wisst es noch, wie er hier, genau an dieser Stelle, stand, wie er das Bild seines Kollegen Lenthe noch einmal vor uns entstehen liess, – wie er über das Märchen vom Gevatter Tod sprach, über den Gevatter, mit
dem man ja doch auf vertrautem Fuss steht oder stehen soll, – und der – hätten wir ihn sehen können – damals schon hinter ihm stand und seine Hand ihm auf die Schulter gelegt hatte, – ohne dass einer von uns es wusste.
 
Diese Ansprache war eine seiner ganz grossen Schöpfungen, war zum letzten Mal vor der ganzen Schulgemeinde der ganze Dr. Gerhard, wie wir ihn auch noch von seiner Rede zum Todestage Schillers im Gedächtnis hatten. Diese Rede war, wie so vieles, was er seinen Schülern gab, ein Werk seiner durchwachten
Nächte, die Leistung eines Meisters der deutschen Sprache und die Schöpfung eines, ich darf wohl sagen, begnadeten Geistes. …
 
Sie, meine Kollegen, und ihr, liebe Schüler, besonders ihr, die ihr seine Schüler wart, habt ihn besser gekannt als ich, und wenn ich im folgenden ein Bild zeichne, das vielleicht nicht immer ganz dem entspricht, das vor
euch steht, so geschieht das zum einen Teil, weil ich die Stunden fast zählen könnte, die ich von Ostern bis zum Beginn der Ferien mit ihm gesprochen habe, – zum andern Teil aber auch, um vielleicht doch hier und da einen Zug hinzuzufügen und euch die Gestalt eines Mannes, der euer Lehrer war – und für den dieser Beruf als Lehrer so viel bedeutete -, umso tiefer einzuprägen.
 
†Über seine Vorstellung von Unterricht schreibt er selbst einmal: „Ich habe häufig meine Methode geändert. … Es war ein Weg fortschreitender Auflockerung, den ich in meinem Unterricht eingeschlagen habe …“ – In der Tat: Sein Unterrricht war das Selbständigste, aber auch Eigenwilligste, was mir in meiner Tätigkeit begegnet ist. – Das ist keine Kritik, noch weniger ein Tadel. Nur ein Lehrer ohne eigene Ideen unterrichtet nach einem festen
Schema. – Er, Gerhard, hat seine eigene Arbeit immer wieder überprüft, immer wieder korrigiert, oft in übertriebener Gewissenhaftigkeit …
 
So heisst es einmal von ihm: „Wenn einer, dann hob er sich aus der Zahl der vielen heraus: durch seinen Geist, durch seine Beweglichkeit, durch sein oft schroffes Urteil dem Unvermögenden gegenüber, bei dem es für ihn keinen Kompromiss gab, – auch wenn der Unvermögende eine höhere Stellung einnahm.“
 
So hat er nicht nur Freunde gehabt; er ist sicherlich oft auch nur schwer verstanden worden, und wie schwer er oft verstanden wurde, von denen, die ihm nicht folgen konnten, das zeigt die andere Seite, wenn wir nämlich in diesen ersten Jahren hören oder lesen, dass er (der, wie ich weiss, in Hamburg als einer der tüchtigsten Germanisten galt) von seinen Vorgesetzten als „höchstens brauchbarer Lehrer“ bezeichnet wird. – Es lohnte sich beinahe, einem solchen Problem einmal genauer nachzuspüren.
 
Nach anfänglichen Schwierigkeiten (ich glaube, er hat immer seine Schwierigkeiten gehabt, das lag wie eine Tragik über ihm, und deswegen hat er auch seinen Kollegen Lenthe in seiner jugendlichen, oft jungenhaften Unbekümmertheit und Unmittelbarkeit so liebevoll gezeichnet, weil der in vielem, in beinahe allem, der Gegensatz zu ihm war, – er selbst dagegen: bis zum Empfindlichen empfindsam, gar nicht unmittelbar, sehr reflektiert, von starkem Selbstgefühl, das häufig einem Gefühl der Niedergeschlagenheit Platz machte) – nach anfänglichen Kämpfen also ist er schon vor seiner Ernennung zum Studienrat, die 1940 erfolgte, einer der anerkannt fähigsten Germanisten …: „Er erteilt seinen Unterricht mit grösster Gewissenhaftigkeit, vorzüglicher pädagogischer Begabung und grossem Erfolg. … Seine Ziele …: hochgesteckt, und das Niveau seines Unterrichts: von beachtlicher Höhe“ (so, 1939, Fritz Lundius, Schulleiter am WG).
 
Mit dem Krieg, dessen spätes Opfer er schliesslich geworden ist, brach dann die Katastrophe über ihn herein: … 1940 und 1941: in der Kinderlandverschickung verwendet; dann musste er, im Januar 1942, seine Familie verlassen (er hatte 1937 geheiratet und hatte zwei Kinder) und Soldat werden, an der Ostfront. – Was dies für den feinnervigen und sensiblen Ästheten Gerhard bedeutete, werden, glaube ich, nur wenige ermessen können, wird vielleicht keiner sich vorstellen können, der nicht den Krieg kennt, der im Osten
mit aller nur erdenklichen Brutalität geführt wurde.
 
Im Mai 1944 ist er bei Luminetz im Partisanengebiet des Mittelabschnitts der Ostfront durch eine Tellermine schwer verwundet worden: Er erblindete zunächst völlig, bis schliesslich die ärztliche Kunst die Sehkraft des rechten Auges, das aber noch zehn Jahre später in ständiger Gefahr schwebte, zur Hälfte wiederherstellen konnte.
 
Nach 1945 entliess ihn die englische Besatzungsmacht aus seinem Amt, „weil er zwischen 1933 und 1945 Beamter geworden war“. – Die gleiche Besatzungsmacht steckte diesen schwer kranken und durch seine Verwundung seelisch oft nervös empfindlichen Menschen von August 1945 bis Februar 1946 in ein Internierungslager, – ohne dass er sich von seinen Angehörigen verabschieden konnte – und ohne dass er in den nächsten acht Wochen die Möglichkeit hatte, sie zu benachrichtigen.
 
Als er dann, im Jahre 1947 ans Wilhelm-Gymnasium kam, war er, das darf man wohl sagen, ein gebrochener Mann … Seine Kriegsverletzung, die schweren Erlebnisse der Nachkriegszeit, dazu noch ein – wie er glaubte – geradezu beschämender Kampf um die Berücksichtigung seiner Kriegsverletzung, … all das vernichtete die letzten physischen und psychischen Reserven dieses Mannes. … Er war sogar seelisch ein anderer geworden. Wenn er schon früher ein Individualist war, so wurde er jetzt ein Einzelgänger: Die Erfahrungen, die er mit den Menschen gemacht hatte, liessen ihn sich immer mehr von ihnen zurückziehen. Und es ist sicher kein Zufall: einen Gleichaltrigen, dem er sein Herz öffnete, hat er nicht gehabt.
 
Diese tragische Einsamkeit, in die er sich flüchtete, konzentrierte alle seine Kraft auf seine Arbeit, auf seinen Beruf. So arbeitete er die Nächte durch, fand wochenlang kaum oder nur wenig Schlaf, arbeitete stundenlang an seinem Unterricht für den folgenden Tag oder für das kommende grössere Gebiet, – was dann auch dazu führte, dass sein Unterricht eine Höhenlage, eine Durchdringung des Stoffes … an den Tag legte, wie er nur in seltenen Fällen erreicht wird. Er korrigierte stunden- und nächtelang an den Aufsätzen seiner Schüler, wobei er in oft übergewissenhafter Weise auf Einzelheiten einging, die die Schüler, aber auch die Eltern und Fachkollegen, immer wieder in Erstaunen versetzte. – Und schliesslich schrieb er in diesen Nachtstunden Gedichte, wenn er ganz mit sich allein war.
 
Diese seine Physis – an der Grenze zwischen Genialität, Willen zur Leistung, Sensibilität, Feinnervigkeit – ist dem, was unser Jahrhundert von seinen Menschen zu verlangen pflegt, – nach allem, was er in den Jahren 1944 bis 1947 erlebt hatte, am Ende nicht mehr gewachsen gewesen.
 
Und so liegt über dem Zusammenbruch, der am 7.Juli über ihn kam (genau an dem Tag, an dem die Jugend, mit der und für die er lebte, sorglos in die Ferien ging), eine schwere menschliche Tragik, der gegenüber wir nichts tun können, als uns in Ehrfurcht und Schmerz zu beugen, – dem gegenüber, der einen Menschen unter ein solches Schicksal stellt.
 
Lassen Sie mich mit einem persönlichen Gedanken schliessen. Dieser hat unserem Kollegen Gerhard, soweit ich ihn kenne, vielleicht ferngelegen, mich aber hat er immer wieder berührt, wenn ich dieses tragische Schicksal überdachte. – Ein antiker Schriftsteller hat es einmal als elementares menschliches Bedürfnis bezeichnet, memoriam sui quam maxumam efficere; so oder ähnlich muss es bei Sallust stehen: Es ist eine Art Streben nach Unsterblichkeit, nach menschlichen Begriffen gemessen: das Bestreben, die Erinnerung an sich möglichst lang zu gestalten.
 
Was ist aber heute eine solche Erinnerung, über Zeiten und Räume hinweg? – Cicero glaubte, schon der Kaukasus begrenze gloriam nominis Romani: Wir leben in dieser Hinsicht heute in noch engeren Grenzen. – Aber können wir, seine Kollegen, und ihr, seine Schüler, ihm dies nicht schenken, heute und über dieses Jahr hinaus, vielleicht für die Schulzeit, vielleicht fürs Leben: sein Bild in der Erinnerung wachzuhalten: das Bild dieses hochbegabten, oft mitreissenden, noch öfter einsamen und so tragisch unglücklichen Menschen, der Dr. Walter Gerhard hiess …?“
 
(4) In der neuen Umgebung: das WG am Klosterstieg. –
 
Vor diesem Passus müsste eigentlich eine Ansprache stehen, die Bömer, kurz zuvor, in der Aula des Gymnasiums Eimsbüttel (heute: Kaiser-Friedrich-Ufer, „Kaifu“), gehalten hatte: „Wir haben’s getragen zwanzig Jahr“, – gemeint: die Zeit des „Exils“, – Jahre der Untermiete: erst im Gebäude der Albrecht-Thaer-Schule am Holstenwall, – danach: im Gymnasium Eimsbüttel. – Schlimme Jahre, wie er sagte. – Mein persönlicher Eindruck (ich war damals Schüler am WG, erst am Holstenwall, dann in Eimsbüttel, wo ich dann auch Abitur gemacht
habe): So schlecht waren die Gebäude denn doch nicht, so unerträglich war auch das Leben dort nicht, zumindest nicht für uns Schüler. – Bei allem, was mir noch in Erinnerung ist: Die Gebäude, erst also die Schule am Holstenwall, dann das Gymnasium Eimsbüttel, habe ich in eher guter Erinnerung (obwohl ich zu meiner ersten Schule jeden Morgen fast eine Stunde zu Fuss laufen musste): Albrecht-Thaer-Schule: ein wundervoller Bau, mit einem Lichthof und einem Treppenhaus, das es sonst nur noch einmal in Hamburg gab (kein Wunder: beides, das uralte Gebäude des Wilhelm-Gymnasiums an der Moorweidenstrasse und die Albrecht-Thaer-Schule sind Werk desselben Architekten, haben die gleiche Architektur, die gleichen Ausmessungen, den gleichen Lichthof, das gleiche Treppenhaus usw.), – und die Architektur des Gymnasiums Eimsbüttel (heute: „Kaifu“): auch nicht gerade schlecht.
 
Also: Kein Einstimmen in das damals übliche Lamento über die grauen Jahre des Exils? – Von mir aus: tatsächlich nicht so, wie es überall geschrieben wurde: Wir Schüler konnten damit leben … – Sobald man aber auf das sieht, was danach kam, wovon wir uns nichts träumen liessen, weil wir keine Vorstellung davon hatten: das ganz neue Leben am Klosterstieg, vielleicht denn doch: Der Einzug in die endlich fertiggestellten Gebäude am Klosterstieg bedeutete für alle, die damals dabei waren, einen Glückstaumel, der jetzt nur noch schwer nachempfunden werden kann. – Alles, das gesamte Schulleben, war plötzlich verwandelt, herrlich, wie ein Wunder. –
 
Nebenbei, als Hintergrund, als besondere Botschaft, für manche kaum verständlich: Der Hamburger Senat hatte sich bereitgefunden, genau dieses Grundstück für unser WG zu erwerben. – Wer einen Hamburger Hausmakler kennt, weiss, was das bedeutete, damals wie heute: Etwa die teuerste und begehrteste Immobilie in Hamburg, das „Filetstück“ des Hamburger Grundstücksmarktes: direkt an der Alster, – noch dazu: schwierigste Auseinandersetzungen mit Vorbesitzern … usw. usw. – In der Tat waren viele Verhandlungen zu führen: mit dem NDR, der dort seine Garagen hatte, mit der Russisch-Orthodoxen Kirche, deren Kirche gerade auf diesem Gelände stand, mit dem Roten Kreuz, mit dem Standortkommando, mit mehreren Anwohnern, die ihre Rechte geltend machten usw. usw. – Warum es am Ende doch geklappt hat, ist nirgends dokumentiert
– 
Aber eins ist sicher: Es hat von allen Seiten viel Energie und noch mehr guter Wille dazugehört, dieses Ziel zu erreichen, – und beides war offensichtlich vorhanden, bei allen.
 
Nun aber wieder Franz Bömer, der – aus manchen seiner Reden bekannt als energischer Kriegsgegner – sich eine kleine, spöttische, bissige, hämische Nebenbemerkung denn doch nicht ganz versagen mochte, – bei aller Freude, Erleichterung und Begeisterung, die ihn erfüllte: „Kosten insgesamt: nicht ganz der Preis für einen Düsenjäger …“.
 
Heft 34, 1964: „Es gibt wenig Ereignisse aus dem Schulleben, die man nie vergisst. … Der 7. Mai 1964, Himmelfahrtstag, 775. Geburtstag des Hamburger Hafens, †Überseetag in Hamburg, – war für uns ein Ereignis von solcher Bedeutung. – Am 6. Mai hatten wir das Packen am Kaiser-Friedrich-Ufer beendet, – am 8. Mai zogen wir an die Alster. – Der 7.Mai bedeutet Trennung und Wende.
 
Was wir in diesen Tagen und seit diesen Tagen erlebt haben, soll hier für die Geschichte der Schule auf einigen Seiten festgehalten werden, – denen, die dabei waren, als Blatt der Erinnerung, den Ehemaligen, den Eltern und den Freunden der Schule als Zeichen der Dankbarkeit für ihre Hilfe, – und als Aufforderung zu umso festerem Zusammenhalt für die Zukunft.
 
Der Einzug fand ohne jedes Zeremoniell statt, sozusagen en famille … – Wir haben uns schlicht auf den Schulhof gestellt, einige Lieder gesungen, ein wenig musiziert, und dann sind wir an die Arbeit gegangen. So brauchten wir uns nicht selbst zu feiern, selbst, wenn wir es gewollt hätten …
 
Wir wohnen auf einer Insel der Ruhe … Es gibt keinen Strassenlärm … Die Fenster sind mit Doppelglas versehen, die Heizung scheint ausreichend zu sein … Je sechs Klassen haben ein eigenes Treppenhaus, dessen Front ganz aus Glas besteht, es ist geräumig und wunderbar hell. – Die berühmten kasernenartigen Schulflure gibt es nicht mehr. – Der Fachklassentrakt auf der anderen Seite des Schulhofes: von ungemeiner Grosszügigkeit und Zweckmässigkeit usw. usw.
 
Baudirektor Rudhard, der uns in den vergangenen Jahren immer wieder geholfen hat, besuchte uns kurz nach dem Umzug und entsann sich, nach einem Rundgang, eines Ausspruchs von Churchill: ‚Erst bilden wir die Räume, und dann bilden die Räume uns.‘ So oft ich Gäste und ehemalige Schüler durch die neuen Räume führe, muss ich an diese Worte denken. – Nicht, dass in so schönen Räumen nun auch gleich so viel schöner gelernt oder auch nur gearbeitet würde. Das wäre ein Rezept, würdig zusammen mit dem Nürnberger Trichter
genannt zu werden. – Aber dies darf man doch sagen: Das Leben ist für mehr als 350 Menschen – und in Zukunft werden es noch mehr werden – heller, froher, weiter und schöner geworden. – Mehr lässt sich, glaube ich, zum Lobe unserer neuen Umgebung nicht sagen.“
 
(5) Nun auch dies: Ideen durchsetzen, neue Schüler gewinnen, Verhandeln mit der Behörde, Wiedereinrichtung eines zweiten Zuges am WG: Einführung des Französischen. –
 
Es liest sich fast wie ein cantus firmus: Immer, wenn dem WG die Schüler ausbleiben, aus welchen Gründen auch immer, wird ein neuer „Zug“ geboren, der dann viele neue Schüler an die Schule locken soll –
und es mit schöner Regelmässigkeit auch tut… – So war es z.B. in den zwanziger Jahren, als der „Deutsche Zug“ eingeführt wurde. – So auch jetzt. – Schliesslich sollten die schönen neuen Gebäude am Klosterstieg nach dem Einzug nicht halb leer bleiben. – Bömer, listig, wie er war, hatte durchaus Ideen, wollte neben dem Griechischen das Französische als dritte Fremdsprache etablieren, – aber er wusste, dass bei der Behörde nur dann etwas zu erreichen war, wenn man die Eltern einschaltete (was er auch immer offen bekannte). – Jetzt
also: der Elternrat. – Vorsitzend und federführend: Dr. Oswald Heddaeus, selbst ehemaliger Schüler des WG. – Erfolg übrigens (dies schon jetzt): 80 Anmeldungen für die neue Sexta.
 
Es gingen also, unter der Federführung von Oswald Heddaeus, schon im Jahre 1962, viele Briefe an die Behörde, immer wieder nachhakend, nicht locker lassend, – bis endlich die Antwort kam, Januar 1963. – Noch einmal, zum letzten Mal, Oberschulrat Wegner, mit der ersehnten Botschaft: „… kann ich Ihnen heute mitteilen usw.“. – Heddaeus: „Die Behörde entsprach genau unserem Antrag: Beide Züge (der Französisch-Zug und der Griechisch-Zug) laufen heute parallel, und die Französisch-Klassen sind aus dem Bild des WG nicht mehr fortzudenken.“
 
Das folgende zitiert aus einem Beitrag, den Heddaeus 1981, als Erinnerung, für unsere Festschrift verfasst hat (S. 237): „Wichtig für die Beurteilung unserer gesamten Arbeit scheint mir noch folgendes: Der Elternrat war eine Gemeinschaft von Lehrern und Eltern, die den Erfolg der Arbeit durch gemeinsames Zusammenwirken erst ermöglichte. Von der Lehrerschaft möchte ich in erster Linie Prof. Bömer erwähnen, der nicht nur hochqualifiziert war, sondern auch unendlich viel geben konnte, wenn man auf der gleichen Wellenlänge mit ihm lag (was bei den Mitgliedern des Elternrates eigentlich immer der Fall war). – Er wurde im Elternrat vorzüglich ergänzt durch Herrn Zinke, der mit praktischem Blick und sauberer †berlegung das in in die
Tat umsetzte, was Prof. Bömer und wir Eltern in genialem Schwung erdacht hatten. – Der dritte der am Elternrat beteiligten Lehrer war Dr. Grobmann, der sich durch seine Formulierungskunst und sein Einfühlungsvermögen auszeichnete.“
 
Postscriptum: Nur wenige werden es noch wissen: Ganz ähnlich, mit fast gleicher Zusammenarbeit, verliefen um 1972, also zehn Jahre später, die Aktionen, die dann zur Errichtung des Musiksaales und der Pausenhalle führten. Von Seiten der Schule: immer noch Bömer; im Elternrat jetzt natürlich neue Akteure, die, ähnlich geschickt agierend, ähnlich beharrlich wie ihre Vorgänger, mehr für unsere Schule bewirkt haben, als vielen heute noch bewusst ist: Heino von Hassel und Horst Markus. – Im Jahre 1973 war beides fertig: der
Musiksaal und die Pausenhalle.
 
(6) Nach drei Jahren am Klosterstieg: Ansprache an die Abiturienten 1967 (4. März 1967):
 
“ … Wir sind sozusagen miteinander aufgewachsen: Ich habe vor neun Jahren angefangen, zusammen mit Ihnen Latein zu treiben, in Klasse 7 auch Geschichte. – Später sind wir uns, nach einer Unterbrechung von drei Jahren, in Klasse 11 wieder begegnet, im Griechischen, – und dann zog es mich doch wieder zum Lateinischen hin, weil mein Herz … schliesslich doch dem Lateinischen gehört, seiner Sprache, seiner Kultur und seiner Geschichte.
 
Wenn sich nun nach dieser langen Zeit heute unsere Wege trennen, so ist nicht so sehr das Recht, sondern die Pflicht des Lehrers, der am längsten in dieser Klasse unterrichtet hat, zu den Abiturienten auch die Worte des
Abschieds zu sprechen und ihnen so etwas wie einen Rechenschaftsbericht zu geben. – Lassen Sie mich einige, aber auch nur einige der Grundgedanken des Unterrichts, den wir Ihnen in diesen Jahren erteilt haben, darlegen, mehr nach stichwortartigen Regeln unserer Praxis als nach einem kompletten System dogmatischer Prinzipien:
 
(1) Wir haben keinen Grund, Dinge deswegen für gut zu halten, weil sie neu sind, – und deswegen für schlecht, weil sie alt sind. …
 
(2) Wir wollen der jungen Generation die Arbeit und die Anstrengung nicht ersparen. – Wir können uns das einfach nicht nicht leisten, – und selbst, wenn wir es uns leisten könnten, wäre es nicht nur ein inhumanum, sondern auch unmenschlich, menschliche Begabung brachliegen zu lassen.
 
(3) Wir können und wollen der jungen Generation die Konfrontation mit der Geschichte nicht ersparen. – Darunter verstehen wir die Konfrontation des einzelnen mit seiner geistigen Vergangenheit, … im Sinne der Erkentnis schon eines Humanisten des 12. Jahrhunderts, nach dessen Auffassung wir zwar, wörtlich aufgefasst, „höher“ stehen als die Vergangenheit, aber, wörtlich: „alteriore loco“, – und deswegen, „ex alteriore loco“ mehr sehen als die Vergangenheit, – aber eben nicht aufgrund unserer eigenen Grösse, sondern weil wir auf den Schultern eben dieser Vergangenheit stehen (Gymn. 74, 1967, 7).
 
(4) Sie werden sich erinnern (aus unserer Lektüre des letzten Jahres): Es gibt in 25 und mehr Jahrhunderten keinen Autor der europäischen Literatur, der die Phänomenologie des †bergangs von einem freien Staat zur Diktatur, von der inneren Trägheit des einzelnen zur äusseren Knechtschaft und zur Angst gegenüber der Allmacht des Staates, – der die Phänomenologie der süssen Verlockung durch Ruhe, Wohlstand und scheinbare Sicherheit … mit solcher Anteilnahme, mit solcher Präzision und mit solcher Verzweiflung dargestellt hat wie Tacitus. – Ich hoffe, Sie haben hier, ohne dass das Lateinische amtlich dazu deklariert wurde, staatsbürgerliche Erziehung auf hoher Ebene erlebt.
 
Sie werden sich weiter erinnern: Ich habe nicht ohne Absicht an den Schluss unserer Lektüre das Somnium Scipionis gestellt. Es gibt, wenn Sie nicht das Alte Testament zur Hand nehmen, für meine Begriffe keine Schrift, die den Leser in solchem Masse an die vanitas vanitatum menschlicher Existenz erinnert wie Ciceros †berlegungen über den menschlichen Ruhm, der weder den Caucasus zu übersteigen imstande ist, noch den zwanzigsten Teil eines annus vere vertens erreicht. – Diese Gedanken zwingen mich persönlich bei der Lektüre gerade dieser Schrift jedesmal mehr zum inneren Eingeständnis menschlicher Unzulänglichkeit, insbesondere, wenn man sich selbst gegenüber im Alter Rechenschaft abzulegen beginnt und nach dem fragt, was man mit des Lebens Mühe und Arbeit eigentlich geleistet und erreicht hat. …
 
… Die Tatsache aber, dass es gelang, das berühmte 111. Kapitel aus dem Petron als Abiturarbeit vorzulegen, – und dass in meiner Praxis noch nie eine Abiturklasse so fröhlich bei der lateinischen Reifeprüfungsarbeit gesehen wurde, – war nicht nur eine schöne Genugtuung in einem geplagten Schulmeisterdasein, sondern auch die Rechtfertigung der †Überzeugung, dass ein Schulmeister noch notwendiger als das moralische auch ein fröhliches Herz haben müsse.
 
So haben wir wirklich – und das darf ich zum Schluss bekennen – mit diesem Abiturjahrgang … weit mehr Freude als Arbeit gehabt. … So war es, so und nicht anders. – Dafür möchte ich noch einmal allen Kollegen danken, die seit neun Jahren die ersten gymnasialen Schritte dieser Klasse betreut haben, vor allem den drei Ordinarii: Herrn Ilse auf der Unterstufe, Herrn Grobmann auf der Mittelstufe, und Herrn Plett auf der Oberstufe; – und Herr Ilse ist mein Zeuge dafür, dass wir, die Lehrer, die in dieser Klasse unterrichteten, schon vor neun Jahren unser Herz an diese Klasse verschenkt haben.
 
Und so möchte ich Ihnen, in durchaus unschulmeisterlicher Umkehrung der üblichen Verhältnisse, heute keine Ermahnungen, sondern eben diesen Bericht der Rechenschaft mit auf den Weg geben, – Ihnen, im Namen der Schule, danken, für die Art und Weise, wie wir uns das Leben gegenseitig leicht gemacht haben, – … und als letztes: die Bitte aussprechen, dass Sie Ihr Wilhelm-Gymnasium in ebenso guter Erinnerung behalten wie wir die Abiturienten des Jahrgangs 1967.
 
(7) Brief einer geplagten Mutter, zwei Jahre später, Sept. 1969. –
 
Bömer konnte, so stand es weiter oben, „unendlich viel geben, wenn man auf der gleichen Wellenlänge mit ihm lag“ (Bericht von Dr. Oswald Heddaeus, Vorsitzendem des Elternrates). – Was aber, wenn die Wellenlänge nicht ganz stimmte? – Dann wurde die Sache schwierig, für beide Seiten. – Der folgende Brief, hier ungekürzt und unverändert wiedergegeben, ist bisher nirgends veröffentlicht worden. Es ist der Brief einer geplagten Mutter, die – aus ganz persönlichen Gründen – ihre Tochter nach der 7. Klasse vom WG abgemeldet hatte, dann aber merkte, dass ihr Kind an der neuen Schule nur noch unglücklich war: „… Sie hat Heimweh nach ihrer alten Schule, ihrer alten Klasse …“. – Also: versuchen, dass das Kind wieder ans WG und wieder in ihre alte Klasse
kommt. – Wenn nicht gleich, dann wenigstens zum nächsten Ostertermin.
 
Das Problem: die Tochter, Micaela, war keineswegs eine Schülerin, wie Prof. Bömer sich eine Schülerin des WG vorstellte …, ein wenig frech, aufmüpfig, und auch sonst …(jeder, der möchte, kann sie übrigens sehen: sie ist – von mir während einer Unterrichtsstunde liebevoll fotografiert – in unserer Festschrift zu sehen: S. 249, unteres Bild, genau in der Mitte, struppige Haare, und tatsächlich etwas frecher, – und wohl auch kecker und auch ein wenig selbstbewusster als ihre Mitstreiter in der Schullaufbahn am WG, – alle übrigens aus derselben Klasse, die ich sehr liebte, … es war meine erste).
 
Bömer selbst hat übrigens immer wieder bekannt, dass er, „als Kind seiner Zeit“, manche Grundeinstellungen nicht abstreifen konnte, – auch, wenn er es wollte; man möge ihm das nachsehen. – „… seiner Zeit“ – das war
letzten Endes wohl doch noch die späte Wilhelminische Zeit (auch wenn er das nicht gerne hörte) und die Zeit der Weimarer Republik, die Zeit der Gelehrten und der Gelehrtenbilbiotheken, die es heute nicht mehr gibt,
und die Zeit des „höheren und gebildeten Bürgertums“, wie sie immer wieder beschrieben worden ist.
 
Nach diesen Vorbemerkungen nun endlich der angekündigte Brief, 2. September 1969:
 
„Lieber Herr Doktor Schulz!
 
Es ist also endgültig. Micaela kommt nicht wieder aufs Wilhelm-Gymnasium. Und bei dem Gespräch – das so schief gelaufen ist, wie es nur ging – war auch von „Ostern“ überhaupt nicht die Rede.
 
Dummerweise hatte mich die Schulsekretärin am Sonnabend gleich mit Herrn Professor Bömer verbunden, obwohl ich sie nur telefonisch um einen Termin bitten wollte. Ja, und damit war die Sache gleich zum Scheitern verurteilt.
 
Bitte ersparen Sie mir die Einzelheiten dieses Telefonats. Ich kann nur sagen, dass ich ein derartiges Gespräch in meinem ganzen Leben noch nicht habe führen müssen. Und ich wünsche es mir auch für die Zukunft nicht.
Man kann – wollte man es schildern – nur in Superlativen sprechen: Das Unpersönlichste, Kälteste, Schroffeste, Unfreundlichste, Arroganteste, Abrupteste … und, und, und.
 
Aber Ihnen, lieber Herr Doktor Schulz, möchte ich noch einmal ganz besonders für Ihr Verständnis und Ihre Bereitschaft zu helfen danken. Und ich bitte Sie sehr, auch Herrn Lübke meinen Dank auszurichten.
 
Diese Entwicklung ist sehr schade und auch traurig. Aber es gibt Schlimmeres. Und wir werden uns auch dieser Situation anpassen, anpassen müssen. – Ihre … usw.“
 
(8) Ansprache an die Abiturienten. 15. Februar 1969. –
Es war Bömers letzte Rede am WG, gehalten übrigens in der Aula unserer Nachbarschule, der Fremdsprachenschule am Mittelweg, – und viele, die dabei waren, wissen, dass neben ihm, neben dem Rednerpult, sein kräftiger Sohn Heinrich stand, – bereit, ihn bei †bergriffen, wie damals durchaus zu erwarten, tatkräftig zu schützen.
 
Seine letzte Rede also: Manche, die ihn damals hörten, die hinterher den Text gelesen haben, sagten: seine grösste: Niemals vorher, niemals danach habe jemand vor der Schule so ehrlich, so tief, so verzweifelt gesprochen wie er an diesem Tage. – Und, dies nur zur Erinnerung: Es ging im Grunde und nicht zuletzt um die Studentenbewegung von 1968 ff. …
 
In gewissem Sinne also seine Abschiedsrede. – Sie ist in unserem Mitteilungsblatt abgedruckt (Heft 43, 1969), ausserdem, in Auszügen, in der Festschrift von 1981 (251ff.). – Hier nur die letzten Absätze:
 
„… Bleiben Sie, meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, auf dem Boden der Realität – Sie können und dürfen mehr als zwei Jahrtausende nicht ungeschehen machen -, auf dem Boden der Realität, und der Humanität. Beides lässt sich nicht trennen. … Machen Sie es schlicht, ohne Illusion, vielleicht ohne Ideologie, besser als wir; ich meine es ernst, ohne Ideologie: Denken Sie daran, wieviel Blut die Ideologien gerade von der europäischen Menschheit gefordert haben, angefangen von den Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Aristokraten in der griechischen Geschichte und den Christenverfolgungen und den daran anschliessenden ebenso blutigen Heidenverfolgungen am Ende der römischen Zeit.
 
Nehmen Sie dies als Bitte einer Generation, die es in vielem sicher schwerer gehabt hat als Sie: Die Aussichten dazu sind niemals so günstig gewesen wie jetzt. – Die Generation vor uns hatte die Chance verpasst, weil sie im vermeintlichen Jahre Null glaubte, mit kaiserzeitlich-bürgerlichem Denken ihre zerbrochene Welt retten zu können. – Unsere Generation hat die Chance, im wirklichen Jahre Null einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft aufzubauen, nicht wahrgenommen – und mit der Restauration eines spätkapitalistischen Systems und der ihm innewohnenden Korruptheit alle Voraussetzungen für seinen Untergang geschaffen.
 
Nun aber hüten Sie sich – auch dies als Bitte -, hüten Sie sich vor der Selbstgefälligkeit, zu glauben, dass es genüge, jung zu sein und es besser zu wissen. – Hüten Sie sich weiter, bitte, um Ihrer selbst willen, vor dem Misstrauen einer ganzen Welt gegen die Deutschen, wenn diese wieder einmal, zum dritten Mal in diesem Jahrhundert, in dieser aggressiven Weise die Welt verbessern wollen, – und schliesslich: Denken Sie daran, dass Sie noch, wenn auch nicht viel, Geschichte gelernt haben … – und dass die Geschichte sowohl lehrt, dass seit Jahrhunderten die Revolutionäre nur in den seltensten Fällen die Freiheit errungen und nachher auch verteidigt haben, die sie auf ihre Fahnen schrieben, – als auch, dass die Nachwelt eben dies und manches andere aus der Geschichte nicht lernen will, – auch dies ein weites Feld, das wir hier, wenn Sie es nicht auf der Schule getan haben, nicht mehr durchmessen können.
 
Meine sehr verehrten Damen und Herren Abiturienten! – Ich möchte Ihnen zeigen, dass es mir sehr ernst ist mit diesen Gedanken und Wünschen, und mit einem Gedanken aus meiner privatesten Sphäre schliessen. Mein Vater, Jahrgang 1879, starb im Dezember 1945, nachdem im Frühjahr desselben Jahres noch zwei meiner Brüder ums Leben gekommen waren; der eine fiel in Westfalen, der andere wurde im Rheinland von den Amerikanern ermordet. Das hat diesem Mann, der seinen Jahren und oft auch seiner Mentalität nach ins zweite Kaiserreich gehörte, die Lebenskraft genommen. Er war in einer Welt grossgeworden, in der Härte eine Art Selbstzweck war, und er war selbst ein harter Mann. Wir glauben heute noch, dass er oft nur schwer zu ertragen war. Was mich angeht, so habe ich es in vielen, ja oft in den entscheidenden Dingen, ganz anders gehalten als er. Ich bin aber, vor allem aus dem Abstand von
mehr als zwanzig Jahren gesehen, heute der †berzeugung, dass er, um mich eines Ausdrucks seines Jahrhunderts zu bedienen, ein aufrechter Mann war – und dass er das getan hat, was er vor Gott und seinem Gewissen für Recht und richtig hielt.
 
Meine Damen und Herren: Ob das richtig ist, was die Generation unserer Väter tat, was wir tun, was Sie tun und tun werden, das können im Endeffekt weder wir noch Sie wirklich ermessen. Attestieren Sie bitte uns später einmal – nicht heute -, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen, wir als Kinder unserer Zeit und unserer Erziehung, gehandelt haben,und dass wir nicht unmenschlich waren, – und handeln Sie selbst, bitte, so, dass Sie diese Bitte, wohlverstanden als Bitte, nicht als Forderung, Ihrerseits vor der Generation, die Ihnen folgt, wenn vielleicht auch nicht immer mit blütenweissem, so aber vielleicht doch mit einigermassen gutem Gewissen vertreten können. – Erziehen Sie, wenn Sie es wollen und können, die nächste Generation zu besseren Demokraten.
 
Nehmen Sie diese meine Bitten und unser aller Wünsche mit auf den Weg!
 
(Franz Bömer, 15. Februar 1969).
 
Damit endet diese kleine Dokumentation zu Bömers Jahren am WG. – Nach der letzten Abituransprache hat er sich öffentlich am WG nicht mehr geäussert, allenfalls in kleinen „Lesefrüchten“ in unserem Mitteilungsblatt. – Ein letztes Beispiel, zitiert aus der ZEIT: „Es gibt zwei Gruppen, die mit unschöner Regelmässigkeit auf der Seite der Ausgebeuteten stehen: Minoritäten (Juden, Humanisten, Neger, Liberale, Homosexuelle) – und Frauen. – Im Heft 47 ebendieses Mitteilungsblattes dann Zinke, lakonisch: „Herr Prof. Bömer hat seine Amtsgeschäfte als Leiter des Wilhelm-Gymnasiums aus gesundheitlichen Gründen seit August 1971 nicht mehr ausgeübt“ (was ihn übrigens verbindet mit einem, der in vielem ganz anders war als er: mit dem Kunsterzieher Bernd Hering, der bereits ein halbes Jahr früher, aus denselben Gründen, ausgeschieden war). – Bei alledem bisher überhaupt nicht erwähnt: Bömer als Wissenschaftler und Publizist: Verfasser umfangreicher Monographien und wissenschaftlicher Kommentare, ausserdem über viele Jahrzehnte Herausgeber und Redakteur der altsprachlichen Zeitschrift „Gymnasium“. – Darüber, vielleicht auch von anderer Seite, demnächst.
 
(Schulz, 10. Februar 2004)
 
 
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An die Mitglieder, Ehrenmitglieder und Freunde unserer Vereinigung, –

insbesondere – wie alljährlich – schon jetzt an alle, die im nächsten Jahr von uns zum Abiturjubiläum eingeladen werden: die Abiturienten und Abiturientinnen von 1934, 1944, 1954, 1964, 1974, 1984, 1994 und 1999.
 
(Rundbrief vom 8. Dezember 2003)
 
Wie alljährlich: unser Rundschreiben zum Jahresende. Es gibt – neben den üblichen, immer wieder nötigen Formalia – viel Gutes zu berichten, leider aber auch auch vieles, was bedenklich, alarmierend ist und wo wir, mit
unseren bescheidenen Möglichkeiten, gegensteuern sollten, soweit es geht.
 
Im einzelnen:
 
(1) Postversand, E-Mail. – Dies vorweg, um es loszuwerden: Dieser Brief geht an etwa 1.300 Anschriften, davon etwa 300 per E-Mail, – der weitaus grösste Teil aber,  nach wie vor, mit normaler Post: ca. 1.000 Sendungen, die gedruckt, zusammengetragen, gefaltet, eingetütet, sortiert und zur Post gebracht werden müssen. Nur wer das einmal selbst gemacht hat, weiss, wieviel Arbeit das bedeutet (geht nur mit einer Schar mithelfender
Kinder, die einen ganzen Vormittag damit beschäftigt sind) – und: welche Portokosten es verursacht. – Wir tun das ja gerne, aber was uns ein wenig wurmt: Wenn wir nur ein paar hundert mehr E-Mail-Adressen hätten, könnten
wir die Hälfte der Arbeit und die Hälfte der Kosten sparen – und das Geld für andere Zwecke verwenden.
 
Daher unsere Bitte: Nennen Sie uns, wenn irgend möglich, Ihre E-Mail-Adresse: Sie ersparen dem Verein damit viel Geld, das dann insgesamt der Schule zugute kommt, und Sie erhalten ausserdem in unregelmässiger Folge kleinere Mitteilungen, etwa über Veranstaltungen oder Neuigkeiten am WG, die wir mit normaler Post nicht verschicken können. – Wir wissen allerdings, dass vielen ein normaler Brief lieber ist als eine Nachricht auf dem Computer. Wir werden diese Möglichkeit auf jeden Fall immer offenhalten.
 
(2) Schulisches: Bausachen. – Per Saldo: ein hocherfreuliches Thema. Das neue Oberstufenhaus, an der Stelle, wo früher der Bunkerhügel war, ist fertig. – Insgesamt: voll gelungen, nicht pompös, aber solide und klar konzipiert. Im Erdgeschoss mehrere Kursräume, grössere und kleinere, alle hell, freundlich, mit Blick ins Grüne, – im Obergeschoss ein weiterer, kleiner Kursraum, auch sehr schön, – und dann: der riesige Bibliotheksraum, für viele das Herzstück der gesamten Anlage. Mehr als 100 qm gross, hell, mit Aussicht nach mehreren Seiten. Natürlich wird jetzt an vielen Stellen überlegt, wie dieser Raum zu gestalten und zu nutzen ist, denn er ist bisher gänzlich leer. Schönste Vision aller Beteiligten (Schüler, Eltern, Lehrer): ein Bibliotheks- und Arbeitsraum, in dem Schüler und Lehrer nach Herzenslust lesen und arbeiten können, in dem sie fast alle nötigen Bücher zur Hand
haben, sich an grossen Arbeitstischen ausbreiten können, natürlich – wie heute üblich – mehrere Computer mit Internetanschluss zur Verfügung haben und wohl auch ein gutes Kopiergerät. – Das Ganze ist nicht illusorisch,
sondern durchaus durchführbar, nur gab es auch Stimmen, die meinten, ein so wundervoller Raum, „nur als Bibliothek genutzt“ …, – das sei doch wohl Verschwendung. –
 
Die Lösung wird ein vernünftiger Kompromiss sein: Grundsätzlich Bibliothek, mit allem, was dazu gehört, aber so flexibel, dass man Tische und Stühle auch einmal umstellen kann, um z.B. eine Versammlung des dritten Semesters oder eine Autorenlesung durchzuführen. – Also: keine Schwierigkeit.
 
Es fehlt aber noch die Möblierung: Regale, Tische, Stühle. Soweit man sieht, wird dafür die Behörde aufkommen. – Und: es fehlen die Bücher. Das ist Sache der Schule. Was aber viele an unserer Schule nicht mehr wissen:
Es gibt ja eine ziemlich umfangreiche Handbibliothek: linkes Silentium, hinter dem Lehrerzimmer, die sog. Lehrerbibliothek: Fast alle Bücher, die dort stehen, stammen aus den siebziger Jahren, aus der Pionierzeit der
reformierten Oberstufe, als die Behörde, mit erheblichen Mitteln, Bücher für das selbständige Arbeiten der Oberstufenschüler anschaffen liess: Ohne dies, so damals die †Überzeugung, keine sinnvolle Oberstufenarbeit … –
Also: lauter Bücher für die Schüler und Schülerinnen unserer Oberstufe. – Viele Ehemalige werden sich an diesen Arbeitsraum noch erinnern, auch daran, wie dort Schüler und Lehrer friedlich und einträchtig nebeneinander
arbeiteten. – Das ging solange gut, bis einige aus dem damaligen Kollegium es schlicht nicht mehr ertragen konnten, dass ständig Schüler durch das geheiligte Lehrerzimmer in den Bibliotheksraum gingen. Sie führten einen Konferenzbeschluss herbei, und den Schülern und Schülerinnen war hinfort der Zutritt (zu ihrer Bibliothek) verwehrt.
 
Heute scheint es wichtig, daran zu erinnern, dass fast alle diese Bücher für unsere Schüler und Schülerinnen angeschafft wurden, nicht für die Lehrer, und dass also die meisten in die neue Oberstufenbibliothek gehören,
auch wenn sich manche dagegen wehren mögen.
 
Dies ist dann aber natürlich nur der Grundstock. Vieles aus dem alten Bestand ist veraltetet. Die Schule braucht, wenn die Bibliothek sinnvoll funktionieren soll, eine grosse Menge neuer Bücher, und die müssen bezahlt werden. – Von wem? – Von der Behörde ist, nach allem, was man hört, kaum etwas zu erwarten. Bleiben wieder nur die Eltern und – natürlich – wie immer: die Ehemaligen. Es scheint, dass hier wieder einmal eine erhebliche
finanzielle Aufgabe auf uns und unseren Verein zukommt, aber diese Aufgabe sollten wir, soweit es in unseren Kräften liegt, uns zu eigen machen. – Es gibt wohl keine bessere Investition in die Zukunft unserer Schule als diese.
 
(3) Schulisches: „Lehrerarbeitszeitmodell“ und Verwandtes.
 
Geht alle Lehrer und jede Schule an, also auch das WG. – Per Saldo: Hoch unerfreulich: Ein Komplex, der den Hamburgern ziemlich viel Verdruss bereitet hat und noch bereitet – und darüber hinaus immer noch viel unverhohlenen Spott und viel Schadenfreude von ausserhalb. – Zur Sache (für alle, die nicht in Hamburg leben): Der jetzige Senat, bestehend aus CDU, Schill-Partei, F.D.P., hat sich – neben einigen anderen Dingen, für die er durchaus Lob geerntet hat, – auch der Schulpolitik angenommen, hier freilich nur mit ganz schlechten Noten. Heftige Kritik, zum Schluss auch aus den eigenen Reihen, speziell für den damals zuständigen Schulsenator, der vermutlich gar nicht allein dafür verantwortlich war. Ihm hatte schon zu Beginn seiner Amtszeit die Süddeutsche Zeitung genüsslich bescheinigt: „Ein Konteradmiral, der sich selber versenkt“.
 
Worum es geht? (etwas ausführlicher, weil wir in manchen Briefen und Telefonaten von ausserhalb explizit danach
gefragt werden: „Was ist in Hamburg eigentlich los ??“). – Der Senat hatte, soweit man sieht, schulpolitisch mehrere Dinge angesteuert und auch durchgesetzt:
 
Erstens: Eine verschleierte, nirgends offen ausgesprochene Erhöhung des Unterrichtssolls für alle Hamburger Lehrer, im Durchschnitt etwa zwei Unterrichtsstunden pro Woche, allerdings unterschiedlich verteilt: für
manche erheblich mehr (bis zu fünf, sechs, sieben Stunden), für manche weniger (dazu den folgenden Punkt).
 
Zweitens: Das oben genannte „Lehrerarbeitszeitmodell“, eine Art „Gebührenordnung für Lehrer“, nach der unterschiedliche Tätigkeiten unterschiedlich honoriert werden (z.B.: Unterricht in Latein erheblich günstiger als Unterricht in Musik oder Sport), aber auch andere Tätigkeiten (Konferenzen, Elterngespräche, Elternabende …) mit gewisser Minutenzahl in Anrechnung kommen. – Insgesamt – das darf man wohl als Aussenstehender mit aller Vorsicht sagen – eher ein Kuriositätenkabinett als ein ausgereifter Entwurf. – Prof. Bömer, vielen vermutlich noch bekannt in seiner lakonisch-catonischen Diktion, hätte denn wohl auch schlicht gesagt: „Unter Curiosa abheften …“.
 
Aber auch er hätte vermutlich nicht verhindern können, dass – nach all den Vorgaben und Schlüsselzahlen der Behörde – die Lehrer im Schnitt unversehens zwei Wochenstunden mehr unterrichten. – Selbst wenn er sich strikt geweigert hätte, die „Vorgaben“ der Behörde „umzusetzen“ (zwei Vokabeln, die im Moment hoch im Kurse stehen), selbst wenn er sein Amt aus Protest zurückgegeben hätte: Bewirkt hätte er nichts: Die Behörde hätte schnell einen anderen gefunden …
 
Drittens: Eine starke Erhöhung der Mindestzahlen für Klassen und Kurse, insbesondere in der Oberstufe. Ergebnis: In wenig belegten Kursen (LK Physik, Chemie, Mathematik, Musik, Französisch, Griechisch, Latein), in denen die Mindestzahlen an einer Schule nicht erreicht werden, wird nach Möglichkeit „zusammengelegt“, um die Kurse überhaupt stattfinden zu lassen: Grundkurse mit Leistungskursen, Kurse verschiedener Semester, Kurse
verschiedener Schulen usw., bis im Ergebnis ein Kurs der erwünschten Grösse entstanden ist. Das muss nicht immer nur schlecht sein, aber es bringt, für Schüler wie für Lehrer, viele zusätzliche Belastungen: Unsere Schüler
wandern in Scharen in die Nachbarschulen und werden dort unterrichtet, und in anderen Fächern strömen andere in Scharen zu uns. – Ausserdem: Ein bunt zusammengewürfelter Kurs von dreissig Schülern ist für alle Beteiligten
nicht immer eine optimale Lerngruppe.
 
Lustiges Postscriptum: Unser Oberstufenhaus ist bereits vor Jahren vom damaligen Senat (SPD und Grüne) konzipiert worden, alle Räume orientiert an den damals geltenden, kleineren Kursgrössen. Nach allem, was man hört, sind inzwischen, für die neu angesteuerten Kursgrössen, die Räume insgesamt zu klein. … – Unser Glück: Die Pläne der Behörde lassen sich nicht von heute auf morgen umsetzen, so dass die allermeisten unserer Kurse nun doch in das neue Haus hineinpassen, – bis auf vier oder fünf, die nun doch in anderen Räumen arbeiten müssen. Unser Koordinator für die Oberstufe, Martin Richter, hat mit bewährtem Geschick einen Plan ausgearbeitet, nach dem im Moment alles funktioniert. Für die Zukunft hofft er – wie viele bei uns – zuversichtlich auf eine Wende in der Schulpolitik … – Und weitere Konsequenz: Fast alle Schulen hatten plötzlich zu viele Lehrer. Die mussten dann ganz oder mit einem Teil ihrer Stundenzahl an andere Schulen gehen, an denen gerade besonders viele Lehrer pensioniert worden waren. Betroffen: auch das WG, zum nicht geringen Ärger und zur nicht geringen Trauer der Betroffenen.
 
Viertens (zum ersten Mal etwas Inhaltliches): Eine Neuauflage der Hamburger Lehrpläne oder Richtlinien, diesmal mit starker Verbindlichkeit, Reglementierung, Vereinheitlichung, Kontrolle, †berprüfung, Evaluation – und wie die üblichen Termini alle heissen.
 
Fünftens (damit verbunden): Eine Fülle von vorgeschriebenen Vergleichsarbeiten, Lernausgangstests, Lernerfolgstests usw., ausserdem für die Oberstufe: zunehmende Tendenz zum Zentralbitur.
 
Dies alles dem neuen Senat anzulasten wäre indes nicht gerecht. Vieles davon geht bereits auf das Konto das vorigen Senates (SPD und Grüne), insbesondere die beiden letzten Punkte. Es scheint, dass bereits dort – in einer gewissen Panikreaktion auf die Ergebnisse der sog. Pisa-Studie und auf die so viel besseren Daten für Bayern – das Heil vor allem in Vereinheitlichen, Vergleichen, Kontrollieren, Evaluieren gesucht wurde, – wobei jeder weiss, dass Panik nicht immer der beste Ratgeber ist und dass es ganz andere Konzepte geben
müsste.
 
Mein ganz persönlicher Eindruck: Wieweit durch alle diese Massnahmen, nicht nur bei uns, schlechter, öder, langweiliger, uninspirierter Unterricht besser geworden ist – und wieweit, auf der anderen Seite, guter, lebendiger, engagierter, fruchtbarer Unterricht, den es ja wirklich an vielen Stellen auch gibt, blockiert, eingeschränkt, geradezu: verhindert wird: „das kann man nicht untersuchen, ohne bitter zu werden“ (Hermann Hesse). – Das Hoffnungsvolle: Trotz allem gibt es diesen Unterricht nach wie vor, auch bei uns am WG, und nicht einmal so selten. Er lässt sich nicht verhindern, von keiner Behörde, auch nicht von der Hamburger Schulbehörde.
– Aber diejenigen, die nach wie vor mit Lust, Begeisterung, Phantasie und ständig neuen Ideen arbeiten wollen, haben es nicht immer leicht. – Und nun wieder die Ehemaligen: Wir sehen es als eine unserer ganz wichtigen
Aufgaben, hier, soweit wir es mit unseren Kräften können, helfend zur Stelle zu sein, damit unsere Schule das bleibt, was sie schon immer war: eine nicht alltägliche Schule, die es in dieser Form sonst nirgends gibt und
die mehr ist, und anderes, als eine Veranstaltung der vorgesetzten und regulierenden Behörde.
 
Vereinheitlichung? – Auch dies übrigens eine Hinterlassenschaft des vorigen Senates. Spöttische Zungen formulieren es heute so: Die damalige Schulbehörde hatte ja allen Schulen, sozusagen als Hausaufgabe, aufgegeben, ihr „Schulprofil“ und ihr „Schulprogramm“ zu Papier zu bringen. Keiner weiss so recht, wer sich dieses Thema ausgedacht hatte. Aber: Wie nicht anders zu erwarten, war das Ergebnis eine Flut guter Hausarbeiten – und vor allem: eine Flut erhabener Vokabeln: keine Schule, die sich nicht in besonderer Weise der humanistischen Tradition verbunden wusste …, Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit, fächerübergreifenden Unterricht und viele andere schöne Dinge zu ihren vornehmsten Zielen erklärte … – Was viele dabei nicht bemerkten: †Über all diese fleissig (und oft sogar mit Hingabe) hergestellten Schulprofile und Schulprogramme verloren die Beteiligten nur zu leicht den Blick dafür, dass das Ziel der Behörde letztlich eher das Gegenteil war: die Vereinheitlichung aller Schulen. – Auch hier sollten wir, die Ehemaligen, soweit wir können und soweit wir gehört werden, uns zu Worte melden.
 
Bei alledem noch gar nicht bedacht: die Reaktion der Lehrer. Auch dies, soweit ich sehe, kein Ruhmesblatt, so wenig wie die Politik der Behörde. – Proteste, Protestversammlungen, Massnahmenkataloge allenthalben: uferlos,
fast ohne Ende. – Leider ging es dabei immer wieder nur um die Belastung, die Zumutungen, die Arbeitszeit, viel seltener um das Inhaltliche (die in dieser Form verfehlte Politik der Kontrollen und der Vereinheitlichung), was doch letztlich viel wichtiger oder doch wenigstens ebenso wichtig sein sollte. Davon nur ganz selten ein Wort. –  Statt dessen: Kampfmassnahmen, „Dienst nach Vorschrift“, Verweigerung aller Klassenreisen, aller Sportveranstaltungen, aller Theaterprojekte, soweit sie zusätzliche Belastung erfordern, – und, damit verbunden: Einschwörung auf Solidarität: Einschüchterung aller derer, die weiterhin tun wollen, was sie schon immer getan haben (schon immer weit über jegliche Verpflichtung und jegliche Arbeitszeit hinaus, weil sie es wichtig und richtig fanden und vor allem: Lust dazu hatten). – Ein Votum aus unserem Kollegium zu dem gesamten Komplex: Matthias Glage (Abit. WG 1971, jetzt Lehrer am WG): auf unserer Homepage: ehemalige.wilhelm-gymnasium.de;
Rubrik: Varia Variorum (ursprünglich in dem letzten Heft unserer neuen Schulzeitung „Was geht?“, die wir Ihnen auf Wunsch gerne noch zuschicken; dort auch Stimmen von Eltern).
 
Und die Eltern unserer Kinder? Schwer zu sagen. Soweit man hört, haben sie ohnehin wenig oder kein Verständnis für alles, was ihnen von seiten der Behörde an Plänen, Vorgaben, Anordnungen usw. zu Ohren kommt, – aber das tolerieren viele, weil sie es in dieser Form gewohnt sind und kaum mehr anders erwartet haben. – Wirklich enttäuscht sind viele von der Reaktion der Lehrer. Die hätten sie sich anders gedacht. Vor allem: Viel souveräner. Und: „bitte nicht auf dem Rücken der Kinder“ (so die stereotype, ständig wiederkehrende Formulierung, auch bei uns). – Man darf gespannt sein, wie die Sache weitergeht.
 
(4) Jahresbeitrag 2004 (betrifft nur die „ordentlichen“ Mitglieder: Mitgliedsnummer 12…). – Der Beitrag ist von der letzten Hauptversammlung neu festgesetzt worden. Er beträgt jetzt für Mitglieder in Berufsausbildung EUR 5,– (bisher EUR 3,–), für alle anderen EUR 15,– (bisher EUR 12,–). – Wenn ich das richtig interpretiere, heisst das: Bei †Überweisungen bis 31.12.2003 können Sie noch mit dem bisherigen Beitragssatz rechnen, auch für Vorauszahlungen, danach sollte der neue Beitrag gelten. – Und, um Missverständnisse zu vermeiden: Wenn Ihre Zahlung für mehrere Jahre gelten soll, nicht nur für 2004, vermerken Sie das bitte auf der †Überweisung. – Die Mitteilung über den Stand Ihrer Beitragszahlung: wie immer am Fuss der ersten Seite; dort auch die Konten des Vereins.
 
(5)Spendenbescheinigung. Unser Verein ist nach wie vor als gemeinnützig anerkannt, wobei Beiträge und Spenden in gleicher Weise abzugsfähig sind. – Unseren Mitgliedern schicken wir für alle †Überweisungen (also gelegentlichen Spenden von Freunden der Schule, ehemaligen Lehrern, Ehrenmitgliedern, FF, EL, EE) schicken wir in jedem Falle eine Spendenbescheinigung.
 
In diesem Zusammenhang danken wir, im Namen des Vereins und im Namen der Schule, wie immer, allen, die uns Beiträge, erhöhte Beiträge und Spenden überwiesen haben. Wie Sie wissen, wäre unsere Arbeit ohne dies alles nicht möglich. – Und die übliche Bitte: Sollte irgendetwas an unserer Buchführung nicht richtig sein, sollte eine Spendenbescheinigung nicht eingegangen sein, so bitten wir um Entschuldigung und um eine kurze Nachricht.
 
(6) Jubilare 2004. Das Septembertreffen für unsere Abiturjubilare, jeweils am ersten Sonnabend im September: seit einigen Jahren eine feste Institution am WG. – Jedesmal vorher: viel Schreiben, viel Telefonieren, kreuz und quer, durch die halbe Welt, auch viel Beklemmung, ein wenig Lampenfieber, wie es wohl werden wird (das gehört wohl dazu),
– danach dann: die Erleichterung, das gute Gefühl: Es war gut, sogar sehr gut, es hat sich gelohnt, und es hat vieles, was längst vergessen war, wieder aufleben lassen, auch viele Kontakte … So auch letztes Jahr.
– Diesmal also die Jubilare 2004. Welche Jahrgänge wir dabei im Auge haben, sehen Sie am Anfang dieses Schreibens. Alle Beteiligten, zu denen wir im Moment Kontakt haben, finden Sie ausserdem auf unserer Homepage (ehemalige.wilhelm-gymnasium.de, ohne www!), dort allerdings nur die Namen, keine Anschriften. – Wir werden alle Jubilare zu Beginn des nächsten Jahres direkt anschreiben, bitten allerdings schon jetzt: Wenn Sie in den Listen Lücken entdecken und uns weiterhelfen können (mit Anschriften, die wir nicht kennen), geben Sie
uns bitte kurz Nachricht.
 
(7) Einladung zur Hauptversammlung.
 
Die nächste Hauptversammlung: Donnerstag, 29. April 2004, 20.00 Uhr, im WG.
 
Tagesordnung:
 
1. Bericht des Ersten Vorsitzenden, Dr.Hans Nölting
 
2. Bericht des Schatzmeisters, Dr. Peter-Rudolf Schulz
 
3. Bericht der Rechnungsprüfer
 
4. Entlastung des Vorstandes
 
5. Besprechung über die weitere Arbeit der Vereinigung
 
Nölting (Erster Vorsitzender)
 
Wie immer: herzlich grüssend,
mit Dank für Ihr Interesse: Schulz
 
Bescheinigung (zur Vorlage beim Finanzamt):
Der Verein „Ehemalige Wilhelm-Gymnasiasten e.V.“ ist nach dem letzten Freistellungsbescheid des Finanzamtes Hamburg-Mitte-Altstadt (StNr. 17/422/09128; vom 8.5.2003) nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes
von der Körperschaftsteuer befreit. – Wir bestätigen, dass wir die Zuwendung nur zur Förderung der Erziehung (im Sinne der Anlage 1 – zu § jj Abs. 2 Einkommensteuer-Durchführungsverordnung – Abschn. A Nr. 4) verwenden werden.
 
Nölting (Erster Vorsitzender) – Schulz (Schatzmeister).
 
 

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Matthias Glage: Subjektive Fragen eines subjektiven Subjektes

Den folgenden Beitrag entnehmen wir unserer Schulzeitung „Was geht?“ (Zweite Ausgabe; Herbst 2003). – Matthias Glage war Schüler des WG (Abitur Ostern 1971) und ist jetzt bei uns seit längerem Fachlehrer für Erdkunde, Geschichte, Politik, Wirtschaft und Gemeinschaftskunde; vor kurzem wurde er von den Schülern gewählt als Verbindungs- und Vertrauenslehrer.
 
Wenn man eine Schule seit vierzig Jahren kennt, sie als Schüler und als Lehrer erlebt hat, dann mag man sie und möchte, dass sie in dieser oder ähnlicher Form erhalten bleibt. –
 
Wenn man die Schulpolitik seit 25 Jahren beobachtet, dann fragt man sich, wie nach Jahren der Autonomie-Versprechen und positiver Erfahrungen das Pendel plötzlich so umschlagen kann, dass nun mehr und mehr kontrolliert, verglichen, evaluiert und verängstigt wird.
 
Wie kann Schülern, Lehrern und Eltern die teilweise doch noch vorhandene Freude am Unterricht und an der Schule in nur so kurzer Zeit so gründlich verdorben werden? Glaubt man behördlicherseits wirklich, mit so viel Druck, Mehrarbeit und uferlosen Vorschriften Lehrer und Schüler zu höheren Leistungen zu führen? –
 
Und meint man, von seiten der Lehrer, tatsächlich, durch „Dienst nach Vorschrift“ und zeitliches Auflisten aller Tätigkeiten die Öffentlichkeit und damit auch die Politiker aufzurütteln, um dieses neue „Lehrer-Arbeitszeit-Modell“
zu kippen oder zu verbessern?
 
Da ist viel von „Solidarität zwischen den verschiedenen Kollegien“ und von „politischem Bewusstsein“ die Rede. – Doch kann dies alles nicht auch zum Ende einer Schule führen? – Was ist noch attraktiv an einem „humanistischen“
Gymnasium, das zur gleichgeschalteten Lernfabrik wird?
 
Lernen und Lehren mit Freude und Enthusiasmus ist nun einmal wesentlich nachhaltiger als Pauken und Traktieren mit Druck und Krampf. – Das kann einem – neben der eigenen Erfahrung – jeder Hirn- und Lernforscher
bestätigen. Und wenn dann nahezu alles, was den Gang zur Schule zusätzlich beflügelt hat, gestrichen wird: Klassenreisen, Studienfahrten, Wandertage, Konzerte, Sport- und andere Wettbewerbe, Theaterprojekte, …, – wie soll man dann noch die Schüler (und sich selbst) motivieren? – Wie will man dann noch neue Schüler und ihre Eltern dazu bringen, in die Schule einzutreten?


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Der vorige Text von Matthias Glage

(von ihm, nach eigenem Bekenntnis, mitten in der Nacht, spontan, in einem gewissen Zorn auf die heutige Schulwirklichkeit, zu Papier gebracht) hat, soweit wir hören, teils heftigen Protest, teils starke Zustimmung gefunden; – ein Echo, wie selten.
 
Protest, sogar heftigen Protest: von einigen Lehrern, die heute am WG unterrichten. – Zustimmung, ebenso deutlich: von Eltern, Ehemaligen, jetzigen Schülern, – und auch von einigen Lehrern.
 
In einigen – nicht vielen – Reaktionen: die Anfrage, ob wir von dem Autor und Lehrer Matthias Glage noch weitere Texte zur Verfügung haben, die wir Interessierten zugänglich machen könnten. Er scheine ja ein interessanter
Mensch zu sein, und vor allem: sehr engagiert.
 
Natürlich haben wir sie, und daher: jetzt, im folgenden, ein weiterer Text: eine Abituransprache, die er im Juni 1997 im Curiohaus gehalten hat, bei der Entlassung der damaligen Abiturienten.
 
 
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Matthias Glage: Ansprache an die Abiturienten, Juni 1997, im Curiohaus

Die folgende Ansprache rankt sich – wie manche gut gemachten Predigten – um ein Textwort; hier allerdings nicht aus dem Neuen Testament, sondern aus der griechischen Antike. – Es geht um das delphische „MedŽn ‡gan“,
das hier, in lateinischer Umschrift, für manche wohl eher etwas fremd aussieht.
 
Für alle, die nicht so gut Griechisch können: „MedŽn“ (gesprochen mit langem, offenen „e“ in der ersten Silbe, etwa wie in „Mädchen“; deutsch: „bloss nicht“); – „‡gan“ (gesprochen wie geschrieben; deutsch: „zu sehr“), – insgesamt also: „bloss nicht zu sehr“, – „bloss nicht im †Übermass!“.
 
Betonung des Ganzen in der Originalversion: „MedŽn ‡gan“; – in der folgen Ansprache aber, so wie ich es damals gehört habe (und, wie auch sonst heutzutage üblich, wenn man es zitiert), mit leicht veränderter Betonung: „MedŽn ag‡n“, fast wie ein einziges Wort. So klingt es auch viel wirkungsvoller.

 
„MedŽn ag‡n“,
so, liebe Abiturienten, stand es am Apollon-Tempel zu Delphi.
 
„Ne quid nimis“, – so, verehrte Eltern, aber auch Grosseltern, Urgrosseltern, Onkel, Tanten und Geschwister, übersetzte es Cicero, in seinen Tusculanae disputationes.
 
„Nothing too much“, – so, geschätzte Kollegen, sagen wir es wohl heute.
 
Und damit sei gleich allen die Sorge genommen, die nun eine allzu lange Ansprache befürchten. – Lang kann diese Rede schon deshalb nicht werden, weil der Redner erst vor drei Tagen die Ehre und die Chance erfuhr, sich
hier redlich bemühen zu dürfen.
 
Schon einmal, 1971, hätte hier (nein: damals noch im Lehrerzimmer) die Chance zu einer Rede bestanden, doch damals, als ich selbst Abiturient war, zogen meine Mitabiturienten einen schlichten Sekt-Empfang vor, ohne
jedes Zeremoniell und ohne jede Rede.
 
Les temps changent et nous changent avec eux. – Heute ist alles grösser und teurer geworden. Ihr Abiturienten feiert vorher, ganz unter euch, eine „geile Pardie“, an der Elbstrasse, – und wir alle, die Eltern, Freunde, aber auch Kollegen werden für heute zu einem pompösen, nicht ganz billigen Ball hier ins Curio-Haus geladen; die ganze Schule steht einen, nein: inzwischen zwei Tage lang Kopf, beim (diesmal nicht ganz so krassen) Abi-Scherz, wobei der letzte Jahrgang unbedingt übertroffen werden muss; – und in einer dicken
Abi-Zeitung wird mit den Lehrern abgerechnet (diesmal relativ human), – während die Mitschüler eigentlich ja doch (fast) alle ganz tolle Kumpel waren.
 
Und heute abend besteht nun die Gelegenheit, in der neuesten Garderobe und, eingerahmt von Musik und Festreden, das in Empfang zu nehmen, was allgemein als „Zeugnis der Reife“ bezeichnet wird – und, differenziert
nach Nachkommastellen, mehr oder weniger die Tür zu einer beruflichen Karriere öffnet.
 
Die Zeiten ändern sich. – Oder ändern wir uns? – Oder ändern wir die Zeiten? – Oder werden wir verändert? – O tempora, o mores?
 
„MedŽn ag‡n“. –
Die Verpackung des Abiturs ist immer grossartiger und teurer geworden. –
 
Und die Reifeprüfung selbst? – Hier scheiden sich die Geister: Die einen meinen, früher habe man viel mehr gelernt, – und das Abitur werde einem heute „nachgeschmissen“. – Andere sagen, die Allgemeinbildung bleibe auf
der Strecke, aber man bekomme spezielle Grundlagen für sein Studium. – Dritte glauben, in einem Zeitalter der Informationsverdoppelung alle zwei Jahre komme es vielmehr und alleine darauf an, das Lernen zu lernen …
 
Aber das ist nicht alles, was ein humanistisches Gymnasium leisten soll. Zur Bildung und Reife gehört Erziehung. – Wird aus der kleinen „bestia“, die mit zehn Jahren in unsere Schule eintritt, beim Abitur der menschliche,
soziale „Bildungsbürger“??
 
Ich zitiere aus der Abiturrede meines Lateinlehrers Dr. Alsen, gehalten vor drei Jahren: „Ziel der humanistischen Bildung ist es, aus einem Raubtier, das sich rücksichtslos durchsetzt, das andere mit seinem Ellenbogen – oder
was ein solches Raubtier statt dessen haben mag – zur Seite drängt, wenn es Hunger hat, wenn es um Geld, Karriere, Macht und Ansehen geht, aus einem solchen Raubtier einen denkenden Menschen zu machen, der andere Werte kennt, sich andere Wertmassstäbe setzt.“
 
Ist uns Lehrern das bei euch gelungen? – Oder haben Sie, habt ihr Eltern das erreicht? – Oder habt ihr Schüler es selbst geschafft? – Oder haben wir alle miteinander das vollbracht?
 
Ich hoffe: ja. – Ich fürchte: nein. – Ich denke: nur zum Teil.
 
Als ich, vor acht Jahren, August 1989, wieder an diese Schule kam, waren die meisten von euch schon ein Jahr hier. Als erstes durfte ich in der damaligen 6c (Musikklasse, Klassenlehrer: Jan Rainer Bruns) Geschichte
unterrichten. – Ihr wart damals eine lebhafte, witzige, begeisterungsfähige, kreative Klasse. – Unvergessen bleibt eure delikate, selbst geschriebene und gemalte Rezepte-Sammlung (von jedem eines), die ihr mir, sicher unter
Anleitung von Herrn Bruns, zum Geburtstag gebastelt habt. – Tradiert wird auch – allerdings ohne Namensnennung, was damals eine von euch im Test schrieb, als sie nach den verschiedenen Staatsformen befragt wurde: „Ochlokratie ist die Herrschaft des Popels.“
 
Ein Jahr danach, August 1990, hatte auch die damalige 7a (Klassenlehrerin: Sybille Rathmann) mit mir das Vergnügen (?) des Geschichtsunterrichts. – Ihr wart damals eine leistungsstarke, ehrgeizige Klasse, in der die Mädchen die besseren Arbeiten schrieben, die Jungen aber den Ton angaben. Es wurde um jeden Punkt gefeilscht. – Und ich bekam Probleme mit Eltern, weil wir im Unterricht nicht ganz stubenreine Witze erzählt hatten.
 
Eure damalige 9b übernahm ich von Frau Haines: August 1992, als Klassenlehrer. Und ich kann mich noch genau erinnern, wie ich dies – zu meiner ܆berraschung – zuerst erfuhr: bei einer Hofaufsicht, vor fünf Jahren: Unser
heutiger Primus hat es mir zugepiepst, fussballspielenderweise: „Sie sind unser neuer Klassenlehrer!“… – Die Klasse war zuerst etwas spiessig, hatte etliche Leistungsspitzen (siehe heute), aber für mein Gefühl zu wenig Sozialverhalten. Als ich das auf einem Elternabend zur Sprache brachte, wurde ich für einige Eltern prompt zum Sozialisten. Aber das Missverständnis klärte sich später hoffentlich auf, als ich verdeutlichte, es gehe mir eigentlich nur darum, dass auch Schüler dem bepackten Lehrer mal die Tür aufhalten, nicht ihren Müll dem ausländischen Reinigungspersonal überlassen, andere im Unterricht ausreden lassen, – und: dass nicht jedes Grüssen gleich Schleimen bedeute.
 
Klar, dass zur Verbesserung des Sozialverhaltens ein Segeltörn auf dem Ijsselmeer geplant wurde. – Unsere Reisen wurden nur gelegentlich vom Schulunterricht unterbrochen. Aber auch Reisen bildet: In der neunten Klasse unternahmen wir „Wandertage“ nach Berlin, in der zehnten reisten wir mit Frau Spilker zum Frankreichaustausch nach Dijon, einige auch mit Dr. Linn nach Griechenland. Und in Paris lernten wir uns noch besser kennen. – In der elften Klasse bedurfte es dann einiger Mühe, euch zu einer Abschluss-Klassenreise nach Wien, Budapest und an den Balaton zu bringen, wo auch ich Mühe hatte, nicht vom Pferd zu fallen.
 
In der Vorstufe (ab August 1995) waren, wie üblich, viele von euch im Ausland, und es war erfreulich zu erleben, wie sie sich hierdurch selbständig entwickelten und: sogar selbständig arbeiten lernten. – Es lebe das Fax, mit dessen Hilfe wir manchmal Tag und Nacht, auch über 10.000 km hin, in Verbindung blieben.
 
Dann begann die Studienstufe, damit auch: das Punkte-Sammeln. – Und es war mir (meist) eine Freude, viele von euch, im Erdkundeunterricht, oder auch als Tutanden, wieder zu treffen und zu betreuen. – Hier zeigte sich
dann allerdings auch, dass ihr inzwischen eine Menge dazugelernt hattet, z.B. das Rauchen und das Saufen. – Nicht umsonst lief eine der Klassen bereits vorher unter dem Decknamen „Pardie-Klasse“, eine andere galt als
„Kiffer-Klasse“.
 
Doch das hat eine lange Vorgeschichte. Der erste aus euren Klassen wurde schon bei einem Abi-Scherz vor sechs Jahren völlig weggetreten auf dem Bunkergelände gefunden, ein anderer später mit einer ganzen Reihe von „Stoff“ stoned von der Polizei aufgegriffen. Und wenngleich fast jeder mal bobelte, barzte, knarzte: die Lieblingsdroge blieb der Alk. Und wenn es dann, bei den (von unserem Nachbarn Hardy Krüger besonders geschätzten) Schulparties und -discos morgens ans höchst notwendige Saubermachen ging, dann waren
plötzlich nur noch die ganz harten „Kampftrinker“ oder die wenigen Sozialen da, – oder diejenigen, die, eng aneinander gekuschelt, von der immer heisser werdenden Morgensonne geweckt wurden.
 
Den krönenden Abschluss bildeten die Studienfahrten, bei denen auf Tage mit Tempeln, Vulkanen, Wanderungen, Museen und Mumien Nächte mit Zelten und „Kalter Muschi“ (Rotwein und Coca-Cola) und Knochenbrüchen folgten. – Warum ich das alles erzähle? – Auch das gehört zu euren Schulerinnerungen – und sicher nicht zu den schlechtesten. –
 
Aber auch hier: MedŽn ag‡n!
 
Einzelne blieben auf der Strecke. Während viele, ich hoffe: die meisten von euch, inzwischen gelernt haben, Mass zu halten, versackten einzelne, was ganz besonders schmerzt, wenn man sich für sie mit Kollegen, Freunden,
Grosseltern, Tanten und Therapeuten manchmal Tag und Nacht eingesetzt hat. – Schicksal? – „Manche sterben eben früher“, sagte ein Abiturient des vorigen Jahrgangs zu mir.
 
Sind wir Älteren denn anders? – „Was die Lehrer verdauen, das essen die Schüler“, sagt Karl Kraus, – oder, frei nach der Bibel: „Die Fehler der Eltern rächen sich an den Kindern.“ – Drogenverbote bringen da nicht viel, sie machen eher neugierig oder erziehen sogar zur Unehrlichkeit (für alle, die es wissen: Stichwort Weimar). – Goethe sagt: „Wenn wir die Menschen behandeln, wie sie sind, so machen wir sie schlechter, wenn wir sie behandeln,
wie sie sein sollten, so machen wir sie zu dem, was sie werden können.“
 
Das heisst doch auch: Wir Erzieher müssen selbst Ideale haben und Vorbilder sein – und sollten nicht nur unsere eigenen Fehler in den Schülern bekämpfen. Der grosse deutsche Pädagoge Friedrich Wilhelm August Fröbel sagte es im vorigen Jahrhundert so: „Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts.“ – Und hier passt der Satz „medŽn ag‡n!“ ausnahmsweise einmal nicht.
 
Doch Liebe, das kann ja auch bedeuten: jemanden, mit Massen, seine schlechten Erfahrungen selbst machen zu lassen. Mancher lernt erst, wenn er tief im Dreck steckt, – und wir verschlimmern seine Situation nur, wenn wir immer wieder versuchen, ihn ein Stück aus dem Sumpf zu ziehen, indem wir – unaufgefordert – gut gemeinte Ratschläge geben.
 
MedŽn ag‡n!
 
Aber welche Werte können oder sollen wir denn heute noch vermitteln? – Kürzlich fragte ich im Geschichtsunterricht einer zehnten Klasse, welche Werte für die Schüler denn noch eine Rolle spielten. Nach längerer Pause meinte eine Schülerin: „Ehrlichkeit“. – Aber ist der Ehrliche nicht immer der Dumme? Will die Welt nicht betrogen sein? Für viele ist es doch heute schon ein Zeichen von Dummheit, nicht Steuern zu hinterziehen oder in der Ehe treu zu bleiben. Wir Eltern leben dies unseren Kindern nur zu oft vor. – Dürfen wir uns dann wundern, wenn für unsere Schüler – in Betriebspraktika und bei der Berufsausbildung – Werbeagenturen und Banken immer mehr, – soziale Berufe immer weniger Bedeutung haben?
 
Als ich vor zwei Jahren mit meinem ehemaligen Erdkundekurs nach dem Abitur noch einmal auf dem Balkon sass, meinten manche freundlich-gönnerhaft zu mir: „In fünf Jahren verdienen wir alle mehr als du, Matze …“
 
Man könnte meinen, dass genau das Gegenteil von dem eingetreten ist, was einst Dr. Alsen verkündete: Aus dem „kleinen Raubtier, das sich rücksichtslos durchsetzt, das andere mit seinem Ellenbogen zur Seite drängt, wenn es
Hunger hat, wenn es um Geld, Karriere, Macht und Ansehen geht“, aus einem solchen Raubtier ist eben nicht, dank humanistischer Bildung, ein denkender Mensch geworden, der andere Werte kennt, sich andere Wertmassstäbe setzt, – sondern genau umgekehrt: Aus dem kleinen, kreativen, begeisterungsfähigen Sextaner wurde nicht selten der arrogante, coole, egoistische Macho-Abiturient, für den nicht mehr Mitmenschlichkeit zählt, sondern Geld und Karriere.
 
„Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt?
 
MedŽn ag‡n! –
Im Märchen vom Fischer und seiner Frau sitzen die beiden zum Schluss doch wieder in ihrem alten Pisspott. – Genug der Kritik und des Moralisierens!
 
Es geht ja auch anders! – Was haben viele von euch doch auch, nicht nur für sich, sondern für die Schule getan! – Da wurde Nachhilfeunterricht organisiert, die Schule wurde kurzfristig gesäubert, Podiums-Diskussionen fanden statt (Wahlen, Tschernobyl, Dritte Welt), Weihnachtsbasare wurden für gute Zwecke veranstaltet, das Musical „Hair“ wurde mit Hilfe von Müttern aufgeführt, viele taten sich musikalisch hervor, klassisch oder in der Big Band, hier, in Bornholm, in Helsinki oder Prag. – Andere ruderten unsere Schule an die Welt-Spitze. – Die Theater-AG verliert etliche ihrer eifrigsten und begabtesten Akteure, die sicher an bis zu zehn Stücken (vom Problem-Stück über Komödie bis zur Oper) mitwirkten. – Am Jahrbuch wurde gearbeitet. – Auch die teils gefürchtete, teils bewunderte Schülerzeitung „Wilhelm“ war eure Kreation und hat im Laufe der Jahre sehr an Niveau gewonnen.
 
Natürlich gab es – aus meiner Sicht – auch Rückschläge (Stichworte: Glückstadt, Staudamm, Verschiebung von Referaten …). – Doch habe ich diese auch teilweise mir selbst zuzuschreiben, wenn ich, zum Beispiel, gegen das wichtigste Gebot der Pädagogik verstossen habe: Konsequenz.
 
So lernen wir, hoffentich, alle weiter. – Ich kann für meine Person nur um Verzeihung bitten für das, was ich euch angetan oder was ich unterlassen habe.
 
Und ich bin überzeugt, dass etliche Kontakte nicht abreissen werden, Verbindungen mit euch, die ihr jetzt Ehemalige seid, und z.T. auch mit euren Eltern. Nicht nur, dass manche Mutter weiter im Kapheneion wirken wird (was ja den sonst oft stockenden Informationsfluss an unserer Schule in Gang hält), nicht nur, dass manche Mutter weiterhin im Elternchor singt, nein, es werden auch Freundschaften bestehen bleiben mit Müttern und Vätern, die in Hamburg oder bei Reisen in Marokko, Israel oder Amerika entstanden sind, – und die weiterhin helfen werden, Menschen, in Marokko z.B., mit Kleidung glücklich zu machen.
 
Und ihr Abiturienten: Lasst euch erstmal den Wind anderer Länder um die Nase wehen! Die Mulus-Zeit kann zu den schönsten und abwechslungsreichsten Phasen des Lebens gehören. – Und dann, nach sozialem Jahr oder Bund, seid ihr in Studium und Ausbildung zunächst wieder die Kleinen, die Erstsemester.
 
Ich wünsche euch, dass ihr nicht die, sondern das rechte Mass findet. – Hippokrates hat es gesagt: Alles ist in Massen eine Medizin, in Mengen jedoch Gift. – Oder, mit meinen Worten: Goldener Schnitt statt Goldener Schuss!
 
Und habt andererseits den Mut zur richtig verstandenen Freiheit, fallt nicht auf Autoritäten herein, die euch sagen wollen, wo es längs gehen soll.
 
Und – damit hoffe ich, für das ganze Kollegium sprechen zu können -: Wir wünschen euch viel Erfolg, nicht nur in beruflicher, auch in persönlicher Entwicklung; ferner das, was bei vielen noch entwicklungsbedürftig und im Berufsleben so notwendig ist: Ausdauer, Fleiss, Ordnung, Pünktlichkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, Team-Geist und Courage. – Und behaltet euren Humor!
 
In ein paar Jahren, vielleicht, sehen wir uns wieder: als Ehemalige, als Mütter und Väter – oder gar Kollegen??
 
But: nota bene: „MedŽn ag‡n!“
 
 
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Varia Variorum Latina – ex officina WG (Gymnasii Guilelmii)

Lateinische Sentenzen jeglicher Art, – von Autoren jeglicher Art und jeglicher Zeit, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Schülern und Schülerinnen des WG
 
Wir bringen in folgenden eine bunte und völlig unsystematische Sammlung lateinischer Sentenzen (wie
man sie ähnlich und viel umfangreicher natürlich im Buchhandel und im Internet findet). – Mit unserer Sammlung hat es folgende Bewandtnis: Unter der †Überschrift „Varia Variorum“ sind bei uns am WG in mehreren Schülerjahrgängen kleinere und grössere Sentenzensammlungen entstanden, im normalen Lateinunterricht, oft auch in lockerer Form neben dem Lateinunterricht. – So konnte es nicht ausbleiben, dass einige Ehemalige, als sie hier die Rubrik „Varia Variorum“ entdeckten, sogleich in erster Linie an unsere alten lateinischen Sentenzen dachten und uns signalisierten: „Wenn schon „Varia Variorum“, dann bitte auch, wie gewohnt, lateinische Zitate, hier, auf dieser Homepage“.
 
Wir haben uns die Sache überlegt und fanden die Idee verlockend. Vielleicht gibt es einige, die Spass daran haben, Altbekanntes und daneben auch ein wenig Neues zu finden.
 
Im einzelnen: Wir bringen nur Sentenzen, die in den letzten Jahren von Schülern und Schülerinnen des WG vorgeschlagen und ausgewählt wurden (ausgewählt vor allem deshalb, weil die Schüler hier in geschliffener Sprache Erfahrungen ausgesprochen und formuliert fanden, die ihnen selbst vertraut oder wichtig waren; – wobei sich, natürlich, ziemlich bald zeigte, dass man zu fast jeder Aussage eine Parallele – und, vor allem, immer auch die Gegenaussage finden konnte).
 
Die folgende Auswahl stammt im wesentlichen von Jasmin Haron, einer unserer ehemaligen Schülerinnen,
zuletzt Klasse 9b. Sie hat sich die Mühe (und das Vergnügen) gemacht, die bisherigen Sammlungen durchzulesen, und sie hat von sich aus manches dazugetan. Man erkennt leicht, dass ihr geliebter und bevorzugter Autor zunächst Seneca ist, danach Ovid, die sie zwar beide im Unterricht noch nicht gehabt hat (sie gehören eher zur Oberstufenlektüre), die sie aber in einigen Büchern entdeckt und geradezu verschlungen hat. – Wir haben
ein wenig gegengesteuert und darauf geachtet, dass auch anderes zu seinem Recht kommt.
 
Für die †Übersetzungen soll gelten: „wörtliche †Übersetzung“ (die ohnehin jeder selbst anfertigen kann, der ein wenig Latein gehabt hat) nur, wenn alles ganz klar und einfach ist; in den meisten Fällen: lieber umschreibende Paraphrase, die das Gemeinte und Verstandene deutlich macht.
 
Die kurzen Anmerkungen zur Grammatik (gramm.) und zur formalen Struktur (formal) sollen daran erinnern, dass all diese dicta nebenbei ein wahres Kompendium zur lateinischen Syntax und Stilistik sind; sie sollen zeigen, welche Kapitel die Schüler vor Augen haben (oder: vor Augen haben sollten), wenn sie diese kleinen Gebilde traktieren.
 
(1)docendo discimus.
 
Durch Lehren lernen wir: erst wenn ich die Sache selbst unterrichte, wird sie mir klar.
Autor: Seneca, epistulae
 
gramm.: Gerundium im Ablativ: durch das Lernen (substantivierter Infinitiv)
 
(2)duo cum faciunt idem, non est idem.
 
Wenn zwei dasselbe tun, ist es noch lange nicht daselbe.
Autor: Terenz
 
gramm.: idem.eadem, idem; cum mit ind.: wenn
 
(3) ducunt volentem fata, nolentem trahunt.
 
Den, der bereit ist, geleitet das Schicksal, den, der nicht bereit ist,
zerrt es fort.
Autor: Seneca, epistulae
 
formal: 6 Iamben
gramm.: substantiviertes Partizip (den Wollenden)
 
(4) amicus certus in re incerta cernitur.
 
Ein verlässlicher Freunde erweist sich erst im schwierigen Zeiten.
Autor: Ennius, zitiert von Cicero, de amicitia
 
formal: 6 Iamben, re incerta zusammengezogen, für heutiges Lesen nicht sehr glücklich.
 
(5) magna pars est profectus velle proficere.
 
Ein grosser Teil des Vorankommens ist: vorankommen wollen.
Autor: Seneca, epistulae.
 
(6) dimidium facti, qui coepit, habet: (sapere aude).
 
Wer anfängt, hat schon die Hälfte erreicht (also: wage es, klug zu sein, fang an!).
Autor: Horaz, epistulae
 
formal: Hexameter (es gibt viel bessere! Manchen wohl noch bekannt: die Audi-Werbung: Si me bene audias, Audi vehi audeas).
 
(7) ut desint vires, tamen est laudanda voluntas.
 
Wie sehr auch die die Kräfte fehlen, der Wille ist dennoch zu loben.
Autor: Ovid, epistulae ex Ponto
 
formal: Hexameter
gramm.: schlichtes Gerundivum als Prädikatsnomen im Hauptsatz.
 
(8) ceterum censeo Karthaginem esse delendam.
 
Im übrigen meine ich, dass Karthago vernichtet werden muss.
Autor: Cato, ursprünglich nur griechisch überliefert bei Plutarch, Cato
 
gramm.: schlichtes Gerundivum als Prädikatsnomen im aci.
 
(9) non est in rebus vitium, sed in ipso animo.
 
Der Fehler liegt nicht in den äusseren Umständen, sondern in dir selbst.
Autor: Seneca, epistulae.
 
(10) virtutes discere vitia dediscere est.
 
Tugenden lernen heisst Fehler verlernen.
Autor: Seneca, epistulae.
 
(11) nunc est bibendum!
 
Jetzt muss getrunken werden!
Autor: Horaz, vor Freude über den Tod der verhassten Kleopatra
 
gramm.: Gerundivum ohne Subjekt („unpersönlich“)
formal: alkäische Strophe, erster Vers, erste Hälfte.
 
(12) nunc est agendum!
 
Jetzt muss gehandelt werden (jetzt wird in die Hände gespuckt)!
gramm.: Gerundivum wie eben.
 
(13) tamdiu discendum est, quemadmodum vivas, quamdiu vivas.
 
Wie du leben sollst, musst du solange lernen, wie du lebst.
Autor: Seneca, epistulae
 
gramm.: Gerundivum wie eben; abhängiger Fragesatz; tamdiu … quamdiu
 
(14) quaeris, cur saliant pluviis? spes certa sereni est.
hac tu confisus pelle animi nebulas.
 
Du fragst, warum sie im Regen tanzen? – Es ist sichere Hoffnung,
dass bald die Sonne wieder scheinen wird (Hoffnung auf heiteren Himmel).

Darauf traue, und verscheuche, was dich bedrückt (die Wolken deines Gemütes).
 
Autor: unbekannt, Barockzeit; – dazu: ein Holzschnitt: zwei junge Bären tanzen im Regen.
gramm.: abh. Fragesatz; – gen.obiectivus (Hoffnung auf heiteres Wetter);
formal: Distichon (zweiter Vers wohl ein wenig klappernd …)
 
(15) post nubila Phoebus.
 
Auf Wolken folgt wieder die Sonne.
 
(16) donec eris felix, multos numerabis amicos
tempora si fuerint nubila, solus eris.
 
Solange du glücklich bist, wirst du viele Freunde zählen;
wenn die Zeiten trübe (sein) werden, wirst du allein sein. –
„Freunde die zählst du in Mengen, solange das Glück dir noch hold ist;
doch sind die Zeiten umwölkt, bist du verlassen, allein.“.
 
Autor: Ovid, Tristien (dort original: sospes statt felix)
 
formal: Distichon.
 
(17) non vitae, sed scholae discimus.
 
Nicht fürs Leben, nicht für unser Leben, sondern nur für die Schule lernen wir.
Autor: Seneca, epistulae, voller Verzweiflung über den Leerlauf im Schulbetrieb seiner Zeit.
 
gramm.: dat. finalis: fürs Leben, für die Schule.
 
(18) non scholae, sed vitae discimus.
 
Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir.
Autor: unbekannt, gut gemeinte Umformung des bitteren Satzes von Seneca.
 
(19) gutta cavat lapidem
(non vi, sed saepe cadendo).
 
Steter Tropfen höhlt den Stein
(nicht durch Kraft, sondern dadurch, dass er immer wieder fällt).
Autor: Ovid, epistulae ex Ponto; zweite Hälfte später hinzugefügt; Autor nicht bekannt.
gramm.: Gerundium im Ablativ, mit Adverb
formal: Hexameter.
 
(20) sui cuique mores fingunt fortunam.
 
Der eigene Charakter schmiedet einem jedem sein Glück.
Autor: Cornelius Nepos, Atticus
 
gramm.: cuique, dat. zu quisque, wie immer an zweiter Stelle
formal: Doppelsperrung: sui mores – cuique fingunt fortunam; 6 Iamben.
 
(21) suae quisque fortunae faber est.
 
Jeder ist seines Glückes Schmied.
Autor: Sallust, epistulae
 
gramm.: quisque an zweiter Stelle, wie eben
formal: Doppelsperrung, wie eben.
 
(22) subsilire in caelum etiam ex angulo licet.
 
In den Himmel springen kann man auch aus einem bescheidenen Winkel.
Autor: Seneca, epistulae.
 
(23) parturiunt montes, nascetur ridiculus mus.
 
Berge sind am Gebären. – Was kommt heraus? – ’ne kleine Maus.
Autor: Horaz, ars poetica
 
gramm.: fut. passiv (oder deponentisch)
formal: Hexameter, mit bewusst lächerlichem Schlussreim
 
(24) cui ergo ista didici?
– non est, quod timeas, ne operam perdideris: tibi ipsi didicisti.
 
Für wen also habe ich das alles gelernt (wenn mich doch keiner danach fragt)?
– Du brauchst keine Angst zu haben, dass du deine Mühe vergeudet hast :
Für dich selbst hast du es gelernt!
Autor: Seneca, epistulae
 
gramm.: dat. finalis: cui: für wen?; tibi ipsi: für dich selbst; – timeo, ne …mit coni.
 
(25) istud, quod tu summum putas, gradus est.
 
Das, was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe auf der Leiter.
Autor: Seneca, epistulae
 
gramm.: putare mit dopp. acc.
 
(26) carpe diem.
 
Geniesse (pflücke) den Tag!
Autor: Horaz, carmina
 
(27) non est ad astra mollis e terris via.
 
Der Weg von der Erde zu den Sternen ist nicht sanft (bequem).
Autor: Seneca, Der rasende Herakles
 
formal: 6 Iamben. – Doppelsperrung: non est mollis – ad astra via (e terris).
 
(28) homo bonus semper tiro est.
 
Ein guter Mensch ist immer ein Anfänger (ist nie fertig, nie vollkommen).
Autor: Martial.
 
(29) incredibile est, mi Lucili, quam facile etiam magnos viros dulcedo orationis abducat a vero.
 
Es ist unglaublich, mein Lucilius, wie leicht die liebliche Verlockung des Schönredens selbst grosse Männer von der Wahrheit abbringt.
Autor: Seneca, epistulae
 
gramm.: abh. Fragesatz nach ‚incredibile est‘.
 
(30) difficile est saturam non scribere.
 
Es fällt schwer, hier keine Satire zu schreiben.
Autor: Juvenal.
 
(31) fiat lux.
 
Es werde Licht!
Autor: Vulgata, lat. †Übersetzung der hebräischen Bibel. 1. Mose, Genesis.
 
gramm: coni. iussivus.
 
(32) sit tibi terra levis.
 
Möge die Erde dir leicht sein!
Autor: unbekannt; weit verbreiteter Grabspruch
 
gramm.: wie eben: coni.iussivus.
 
(33) occicit miseros crambe repetita magistros.
 
Der ständig wiedergekaute (aufgewärmte) Kohl bringt die armen Lehrer um.
Autor: Juvenal
 
gramm.: crambe: Weisskohl, langes e;
formal: grosse Sperrung: miseros magistros; dazwischen: crambe repetita.
 
(34) non, quia difficilia sunt, non audemus, sed, quia non audemus, difficilia sunt.
 
Nicht, weil die Dinge schwer sind, packen wir sie nicht an, sondern: weil wir sie nicht anpacken, sind sie schwer.
Autor: Seneca, epistulae.
 
(35) nullum est iam dictum, quod non sit dictum prius.
 
Noch nie ist etwas gesagt worden, was nicht früher schon einmal gesagt worden wäre.
Autor: Terenz
 
gramm.: Konjunktiv bei Existenzaussagen: Es gibt Leute, die …; sunt, qui dicant.
 
(36) expletur lacrimis egeriturque dolor.
 
Zum äussersten wird der Schmerz gebracht durch Tränen – und dadurch am Ende gestillt.
„… wird doch der Kummer gestillt, der sich in Tränen ergiesst“.
Autor: Ovid, Tristien 4, 3, 40.
 
(37) nullum est malum maius quam non posse ferre malum.
 
Kein †Übel ist grösser als dieses: ein †Übel nicht ertragen zu können.
Autor: incertus
 
(38) mens est, quae diros sentiat ictus.
 
(Es ist nicht der Leib): – Das Herz ist’s, welches die grausamen Stiche fühlt.
Autor: Ovid, Metamorphosen 4, 499
 
(39) nil nimis.
 
Nichts im †Übermass! – Lateinische Version des delphischen „MedŽn agan“.-
Vgl. dazu die Abiturrede von Matthias Glage, in dieser Rubrik „Varia Variorum“.
Autor (†Übersetzer): Cicero, Tusculanae disputationes.
 
(40) Tu ne cede malis, sed contra audentior ito!
 
Weiche dem †bel nie aus, doch tritt ihm mutig entgegen!
Autor: Vergil, Aeneis 6, 95
(41) Inveni portum. Spes et fortuna valete!
 
Ich habe den Hafen gefunden, Hoffnung und Glück, lebt wohl …
Grabinschrift an der Nordwand der Tübinger Stiftskirche.
Dazu: Otto Weinreich, So nah ist die Antike, München (Piper) 1970, S. 97 – 180. Dort auch (S. 165): eine der vielen Fortsetzungen:
 
(42) Inveni portum. Spes et fortuna valete!
Sat me lusistis. Ludite nunc alios.
 
Ich habe den Hafen gefunden, Hoffnung und Glück, lebt wohl …
Mich habt genug ihr genarrt. – Narret die anderen jetzt!
 
Hausinschrift an einer Villa an der italienischen Riviera …
 
(43) Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.
 
Wenn ich die Götter im Himmel nicht bewegen kann, dann eben die Götter der Unterwelt …
Wahlspruch von Chr. B.; Vergil, Aeneis, 7, 312.
 
(wird fortgesetzt)
 
 
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Menso Heyl (Abit. WG 1969; heute Chefredakteur beim Hamburger Abendblatt)

Auf den folgenden Text sind wir – fast durch Zufall – erst jetzt gestossen. Wir fanden ihn gut, sogar sehr gut, und haben den Verfasser gebeten, ihn hier abdrucken zu dürfen. – Zur Erläuterung: Der unten genannte Lehrer, der damals Kunst am WG unterrichtete, war natürlich kein anderer als Bernd Hering (heute sehr zurückgezogen und fern von aller Welt teils im mittleren Deutschland, teils im südlichen Frankreich lebend).
 
An die Hamburger Abiturienten 2001
 
– Hamburger Abendblatt „Extra“ zum Abitur 2001 –
 
So manches vergisst der Mensch nie. Zum Beispiel den Augenblick, in dem er hört: „Sie haben das Abitur geschafft!“ – Da verschwindet auf einmal der Druck, Notensorgen lösen sich in Luft auf, und am Ende von 13 langen langen Schuljahren angekommen, öffnet sich der Vorhang in ein neues Leben: Abitur – ein Tor zur Welt. Sie kennen dies Gefühl. Sie alle – bis vor kurzem Schüler von weit mehr als 100 Hamburger Schulen – finden Ihren Namen in diesem „Extra“ des Hamburger Abendblatts. Denn Sie haben die Schule hinter sich. Sie sind der Abi-Jahrgang 2001. – Meinen Glückwunsch!
 
Sie gehören zu den 4943 von 5199 Schülern an staatlichen Hamburger Schulen, die sich der Reifeprüfung unterzogen und sie bestanden haben. Dazu kommen noch die Schüler der privaten Schulen. Die Abiturientinnen und Abiturienten dieses Jahrgangs haben im Durchschnitt die Note 2,6 erreicht und liegen damit dicht bei der Durchschnittsnote des Vorjahres (2,5). Sie werden etwas daraus machen.
 
Offenbar führen in der Grossstadt mehr Wege in die höhere Schule als auf dem Land. Schliesslich erwirbt hier ein Drittel aller Schüler die Berechtigung zum Studium. Hamburg hat die höchste Abiturquote, Bayern die niedrigste.
Auch eine Art Nord-Süd-Gefälle. Jetzt, da der ganze Stress schon hinter Ihnen liegt, spüren Sie den Sog der Möglichkeiten. Die Feinfühligen haben wohl auch gemerkt, dass dieses Gefühl schnell in einen Druck der Erwartungen umschlagen kann.
 
Ich erinnere mich noch genau an Sätze, die uns ein Lehrer (am Wilhelm-Gymnasium) mit auf den Weg gab: „Auch der Schnellste kann immer nur einen Fuss vor den anderen setzen.“ So lautete sein erster Ratschlag. Und damit meinte er: Es ist besser, wenn wir nicht alles auf einmal wollen. – Und der zweite hiess: „Ihr seid die Zukunft, ihr habt in der Hand, was wird. Was immer ihr tut, seid tolerant.“ Mit dem Hinweis auf die Toleranz hatte er den einzig passenden Schlüssel zum Zusammenleben gemeint, im Privaten und im Gesellschaftlichen.
 
Auch wegen dieser Sätze denke ich heute gelegentlich an diesen Lehrer, der Kunst unterrichtete. Er hatte Recht. Einfache Antworten sind meist falsch; aber die gefährlichsten Antworten sind die einseitigen, die mit dem Absolutheitsanspruch.
 
Kaum geht es ums Abitur, fällt man ins Grundsätzliche… – Ihnen wird es sicherlich auch einmal so gehen. Je weiter die Schule zurückliegt, desto rosaroter wird die Brille, durch die man auf sie blickt.
 
Jetzt möchte ich Ihnen nur noch Glück wünschen – für das Leben nach der Schule.
 
Alles Gute: Menso Heyl
 
 
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Abiturrede Menso Heyl am Wilhelm-Gymnasium; 24. Juni 2003

Der folgende Text ist die direkte Fortsetzung des vorigen Beitrages („An die Hamburger Abiturienten 2001“; dort auch die Autorennotiz): Beim Telefonieren über diesen Beitrag ergab sich zwanglos die Frage, ob Menso Heyl nicht auch Lust hätte, beim nächsten Abitur in ähnlicher Weise als Ehemaliger zu unseren WG-Abiturienten zu sprechen. – Er hatte Lust, und das Resultat ist der folgende Text. Das Zitat zu Beginn wird hier allerdings nicht noch
einmal wiederholt.

 
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Abiturienten, liebe Freunde des Wilhelm-Gymnasiums
 
Mein Name ist Menso Heyl; ich bin Ehemaliger, Abitur-Jahrgang 1969. Ich darf heute vor Ihnen sprechen, weil Peter-Rudolf Schulz im Hamburger Abendblatt ein paar Zeilen von mir entdeckt und mich darauf angesprochen hat. Diese ‚Eintrittskarte‘ stelle ich Ihnen jetzt – gekürzt natürlich – vor:
 
„So manches vergisst der Mensch nie“, hatte ich in einem Leitartikel zu unserer Abitur-Beilage geschrieben, „zum Beispiel den Augenblick, in dem er hört: ‚Sie haben das Abitur geschafft!‘ …“ usw. (s.o.).
 
So weit der Auszug aus meiner Eintrittskarte für den heutigen Abend. Diese Sätze habe ich Ihnen vorgetragen, um zu zeigen, wie sehr Schule nachwirkt. Nicht nur über die Vermittlung von Fähigkeiten und Kenntnissen, sondern auch über Grundhaltungen. Da mögen 34 Jahre vergangen sein, da mögen die Zeiten so verrückt sein, wie sie damals waren und wie sie heute sind.
 
Der erwähnte Kunstlehrer hiess übrigens Bernd Hering, – und er hatte seine Sätze zu einem Schüler-Jahrgang gesagt, der offenbar bis heute am Wilhelm-Gymnasium einen ominösen Ruf hat: Wir waren die ersten, die nach den Studentenunruhen von 1968 zur Matura anstanden. Für die sogenannte 68er-Generation waren wir als Schüler zwar einen Hauch zu jung, aber viele von uns, beileibe nicht alle, waren von dem damals aufkommenden Gedankengut infiziert.
 
Auf dieser hoch geschätzten und im besten Sinne bürgerlichen Schule und bei ihrem vom humanistischen Lehrauftrag durchdrungenen soliden Lehrkörper muss das für mehr Aufregung gesorgt haben, als wir Schüler es damals ahnten. Was sollte man auch von Oberstuflern halten, die plötzlich mit zerrissenen und beschrifteten Jeans herumliefen? – Die lange Haare trugen und sich Milchbärte wachsen liessen? – Die am liebsten neumodische Musik hörten und dazu vielleicht noch Dinge taten, über die man lieber nicht spricht?
 
Obendrein waren diese Schüler noch solche Kindsköpfe, dass sie im Papierkorb ein Tonbandgerät versteckten, von dem mitten im Geschichtsunterricht die völlig ansteckende Lache eines Mitschülers ertönte (unseren armen und betroffenen Geschichtslehrer, Herrn Deter, bedaure ich bis heute). –
 
Aber ich möchte noch nicht auf die Ebene der inzwischen längst rosig gefärbten Erinnerungen abgleiten. Denn wir müssen damals auf die Lehrerschaft wie das Ende ihrer pädagogischen Hoffnungen, wie ein Menetekel, gewirkt haben. Das ist noch heute – 34 Jahre später – aus der Abitur-Ansprache des damaligen und geschätzten Schulleiters Prof. Bömer herauszulesen. Er sagte dem Jahrgang 1969: „Ihnen ist von fast allen Instanzen, die sich dazu befugt glaubten, und von vielen, die dazu nicht befugt waren, immer wieder eingebleut worden, dass alles, oder doch nahezu alles, was diese ältere Generation, also wir, getan haben, Kurzsichtigkeit, Idiotie, Nazismus, Kriegsverbrechen, blinder Autoritätsglaube gewesen sei. Und das ist Ihnen so oft gesagt worden, dass Ihre Kritik eigentlich nur die Folge dieser Erziehung gewesen ist, von der die etablierte Gesellschaft natürlich wünschte, dass Sie sie zwar übernehmen, aber nicht konsequenterweise auch auf diese Gesellschaft selbst anwenden möchten.“ (Festschrift 100 Jahre Wilhelm-Gymnasium, 1981, S. 251f.).
 
Der Abiturient Hans-Joachim Ganzer, mein Mitschüler, setzte ihm mit aller Gewissheit, die 19- oder 20-jährige haben können, entgegen: „Aber gerade auf dem Gebiet der Erziehung hat die Schule kläglichst versagt und wird
auch noch weiter versagen. Jedenfalls vom Standpunkt eines Demokraten aus. Die einzige echte Erziehungsaufgabe des demokratischen Staates nämlich wäre, den im Elternhaus zwangsläufig patriarchalisch erzogenen Schüler zum Demokraten umzufunktionieren. Das lässt sich jedoch nicht nur damit machen, dass im Gemeinschaftskundeunterricht das Grundgesetz vorgelesen wird. Begreifen tut das nämlich keiner. Die Demokratie muss dem Schüler praktisch vorgeführt werden.“ (Mitteilungsblatt WG, 43, S.6ff.). – Klassenkamerad
Ganzer dürfte sich später die Chance gegeben haben, seine Vorstellungen an der Wirklichkeit zu erproben. Er ist Lehrer geworden.
 
Vier Jahre nach der ungewöhnlichen Verabschiedung des Jahrgangs 1969 hat das Wilhelm-Gymnasium erstmals wieder im Jahre 1973 eine Abiturfeier veranstaltet. Danach verarbeitete die Lehrerin Gabriele Krüger die Kette der inzwischen eingetretenen Entwicklungen (Mitteilungsblatt WG, 48/49, S. 24ff.: Die Abiturfeier am WG – Kritik eines Betroffenen): „Das Lob, das der ‚ordentliche‘ Schüler dem Lehrer zollt, ‚der Autorität ausstrahlt‘ und dadurch Ruhe und Ordnung zur Arbeit herstellt, ist in Wahrheit ein Eingeständnis eigener Hilflosigkeit, die die Schule dem Schüler zu überwinden helfen muss. Denn was wird der ‚tüchtige‘ Schüler nach dem Abitur machen, wenn ihm kein ’strenger und gerechter‘ Lehrer mehr die Aufgaben stellt? Welchen Herrn wird er sich suchen, wenn er zur Selbstbestimmung nicht fähig ist? …“ –
 
Meine Damen und Herren, – bisher hatten Sie an dieser Stelle als Redner aus dem Kreis der Ehemaligen einen Mediziner und einen Theologen. Jetzt steht vor Ihnen ein Journalist, also der Vertreter eines Berufsstandes,
der in der Wertschätzung der Öffentlichkeit gleich nach den Politikern kommt. Und wenn ich mich heute an meine neun Jahre auf dem Wilhelm-Gymnasium erinnere, dann steht das scheinbar Politische, das ich vorhin so betont
habe, gar nicht so sehr im Vordergrund. Es wirkt auf mich jetzt wie eine aufgesetzte Problematik. Und die frühesten Erinnerungen – die nun sind tatsächlich rosig – stammen von unserem Deutschlehrer Lüssenhop, aus der Zeit, als wir alle noch Untermieter am Kaiser-Friedrich-Ufer waren.
 
Für den besten Aufsatz gab es bei ihm – Lüssenhop war passionierter Jäger – als Anerkennung ein Geschenk: das Schwänzchen eines Hasen. Und obwohl ich diese Prämie selbst nie erhielt, habe ich bis heute nicht vergessen,
dass das Hasenschwänzchen in der Jägersprache ‚Blume‘ heisst.
 
Von Prof. Bömer, der Latein unterrichtete, erinnere ich, dass er die Angewohnheit hatte, unaufmerksame Schüler – durchaus spürbar – an den Koteletten zu zwirbeln.
 
Und ich erinnere mich an den geraden und offenen Charakter meines Mathematiklehrers Fritz Hauschild, der lange mein Klassenlehrer gewesen ist, der gerade 75 wurde und heute auch unter uns weilt. Er hat nicht nur meine stets fehlerhaften Leistungen zu verbessern gesucht, sondern wohl auch des öfteren seine Hand schützend über mich gehalten.
 
Apropos Revolutionär: Mit unserem Jahrgang verbindet sich eine wirklich umstürzlerische Entwicklung. Wir waren die erste Klasse, deren Schülern es ermöglicht wurde, auf den Französisch-Zug zu wechseln. Das muss etwa 1963 gewesen sein. – Welch eine Aufregung! Durfte ein klassisches Gymnasium etwas so Modernistisches, etwas so Populäres einführen? Mussten davon nicht die humanistischen Fundamente des ganzen Schulgebäudes erzittern?
 
Für mich persönlich kam das wie gerufen: Ich hatte im Zeugnis gerade eine 5 in Griechisch kassiert. Mit dem Wechsel in die ‚c‘, also die Französisch-Klasse, entfiel die Wertung dieses ‚mangelhaft‘. Manchmal öffnet das Leben eben Türen, die fest verschlossen schienen. – Wir begannen mit etwa 11 Schülern; irgendwie war nach ein oder zwei Jahren nur noch ein einziger übrig geblieben – ich. Die Schulleitung sagte meinem Vater: „Sie müssen verstehen, einem Schüler Einzelunterricht zu geben, das ist Verschwendung von Lehrkraft. Ihr Sohn muss die Schule wechseln.“ – Mein Vater sagte: „Das wird er nicht tun. Sie haben meinen Sohn aufgenommen, lassen Sie ihn also hier auch seinen Weg zum Abitur gehen.“
 
Mein Vater hat sich durchgesetzt und der junge Menso bekam Einzelunterricht, in einem kleinen Raum im ersten Stock, schräg über dem Hausmeister-Büro, dem jetzigen Krankenzimmer, wie ich höre. – Eine lange Zeit unterrichtete mich Frau Mohr, damals hiess sie noch Niekerken, die es als Vertreterin des französischen Zweigs, also der Moderne, auch nicht gerade leicht hatte. Danach hat mich dann der unvergessene Dr. Hinrichs unterwiesen. Die beiden haben saubere Arbeit geleistet: Noch Ende der 80er Jahre konnte ich mit Philippe, dem Sohn von Charles de Gaulle, ein Interview in seiner Muttersprache führen, so sehr hatten sich Grammatik und Vokabeln eingebrannt. Bis auf ein Wort: Die †Übersetzung für Kirchturm (Belfroit) fiel mir partout nicht ein, aber die Vokabel war wohl im Unterricht nicht vorgekommen.
 
Diese Schule, das Wilhelm-Gymnasium, ist bis heute für mich die entscheidende Schule geblieben. Ich brauche nur das grosse Schild „Klosterstieg“ zu sehen – und schon dreht sich die Spule der Erinnerung. Die Schule stellt die
eigene Kursnadel auf ganz bestimmte Felder ein. Es kommt eben nicht von ungefähr, dass ein Abiturient später z.B. Geschichte studiert und sich für das öffentliche Leben interessiert.
 
Die Einstellung der Kursnadel? Für Musterschüler mag dies auf verhältnismässig direktem Wege wirken. Schüler aber, die die Schule als gelegentliche Katharsis erleben, können auf einem Umweg grosse Stärken gewinnen: Möglicherweise entwickeln sie einen Sinn fürs Durchkommen, entdecken eine lebenslang wirkende Kraftquelle zum Durchhalten. Widerstehen, kämpfen, und die Hoffnung aufs Gewinnen nicht zu verlieren, gehört das auch zum humanistischen Lehrauftrag? Vielleicht doch.
 
Schule, diese Schule, das Wilhelm-Gymnasium, wirkt nach. – Pädagogen mögen zu einem Berufsstand gehören, dessen Vertreter nicht gerade die höchste Lebenserwartung haben. Und doch leben Lehrer am längsten: Sie leben so lange wie der letzte Schüler lebt, der sich ihrer erinnert.
 
 
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Rückblick auf das Jubiläumstreffen am 7.September 2002, mit einem Nachtrag von Philip Marx (Abit. 1997)

Der folgende Brief wurde am 29. September per e-mail an die Ehemaligen verschickt.
 
Heute, genau drei Wochen nach dem Jubiläumstreffen am 7. September, wieder ein kurzes Schreiben von den Ehemaligen.
 
Zuerst, wie üblich, eine herzliche Begrüssung an alle, die sich an diesem Tag neu in unsere Verteilerliste eingetragen haben; wir versprechen, dass wir Sie auf diesem Wege übers WG auf dem laufenden halten werden, – nicht zu selten und nicht zu oft.
 
Nach allem, was wir erlebt haben und was wir jetzt nachträglich hören, war es diesmal wieder ein guter und für viele auch bewegender Tag, der – nicht zuletzt wegen des herrlichen Sommerwetters – für manche bis in den späten Abend und in die frühe Nacht ging (vermutlich die letzte Sommernacht dieses Jahres auf dem Schulhof).
 
Wenn man dann am folgenden Montag in der grossen Pause wieder die Sextaner und alle anderen durch die Pausenhalle und über die Kellertreppe ins Kapheneion laufen sieht, fragt man sich, welches denn nun eigentlich das WG sei: das bunte Treffen am Sonnabend oder die lärmenden Stimmen am Montagmorgen. – Die Antwort ist klar: keins kann ohne das andere sein.
 
Wie Sie wissen, geht ein solches Treffen nicht ohne eine kleine Schar von mithelfenden Schülern und Schülerinnen. Hier hatten wir diesmal offensichtlich besonderes Glück. – Dazu aus dem Brief eines unserer ältesten Abiturienten, die diesmal dabei waren (Abit. 1935 (!) – er war übrigens eigens für dieses Treffen aus den USA nach Hamburg angereist und schickte uns nachträglich einen Scheck über eine erhebliche Summe, die „vielen Zwecken“ dienen sollte):
 
„… last und nicht least in Dankbarkeit für die grossartigen jungen Leute zwischen 13 und 30 Jahren, mit denen zu sprechen ein grosses Vergnügen war: für alles, was auch immer sie taten, hatten sie grossen Enthusiasmus.“ –
 
Fast parallel dazu die Spende und fast wortgleich die Äusserung eines Ehemaligen aus Süddeutschland (Abit. 1937; er hatte sich zwar nicht aus Chicago aufgemacht, aber immerhin aus München, hatte morgens kurz vor 5.00 Uhr den ICE bestiegen, um dann pünktlich um 11.00 Uhr im WG zu sein, – und dort zu bleiben, bis der letzte Zug zurück nach München ging). Auch er neugierig auf das heutige WG und vor allem auf die anwesenden Schüler und Schülerinnen; auch er glücklich und begeistert: er wolle so bald wie möglich wiederkommen, nicht erst in fünf Jahren.
 
Wir haben dabei eins gelernt: Gespräche zwischen den „Alten“ und den „Jungen“ ergeben sich, wenn überhaupt, nur zwanglos, nebenbei, über den Tisch hinweg, während man ein Glas Wein bezahlt oder sich in eine Liste einträgt. – Wir haben früher einmal versucht, so etwas zu organisieren, als „Podiumsdiskussion“, mit ausgesuchten Teilnehmern: das Ergebnis war so krampfhaft und so öde, dass wir es nie wieder gemacht haben. – Kleiner Haken bei dem Ganzen: Das heutige WG lernt man auf diesem Wege natürlich nicht kennen, nur einige wundervolle Kinder, die zur Zeit dort Schüler oder Schülerinnen sind und sich freiwillig für diesen Tag zum Helfen gemeldet haben. Wenn man aber Glück hat, können einem diese Kinder viel farbiger und viel offener über das heutige WG berichten als alle Lehrer und alle offiziellen Vertreter der Schule.
 
Die Schule rüstet sich im Moment auf die Herbstferien (3. bis 20. Oktober). – Die 10. Klassen und die gesamte Oberstufe sind ohnehin seit zwei Wochen auf Austauschreisen und Projektfahrten unterwegs: Italien, Spanien, Griechenland, Türkei und – zum ersten Mal – Ägypten. Einige Fahrten gehen, wie üblich, noch in die Herbstferien hinein. – Für die Zurückgebliebenen gab es in der letzten Woche eine „Projektwoche“: Es wurden Flugzeuge, Ballons und Schiffe gebastelt, auch modische Kleidungsstücke hergestellt, Aufführungen verschiedenster Art vorbereitet usw. – Eine Schülergruppe hat während der Woche eine „Projektzeitung“ hergestellt, die in lockerer Form über den Verlauf und die Ergebnisse aller Projekte berichtet. Sie ist ganz witzig und pfiffig geworden, so dass wir für Interessenten einen kleinen Vorrat reserviert haben.
 
Wie immer: herzlich grüssend und mit Dank für Ihr Interesse: Schulz
 
28. Sept.2002
 
nachträglich (aus einem Brief, der uns kurz nach diesem Schreiben erreichte, von Philip Marx, Abit. 1997):
 
Besonders fasziniert hat mich in der Tat Henry Nord, aus Chicago, der sich extra zum Treffen der Ehemaligen nach Hamburg aufgemacht hatte. – Jedoch war ich weniger wegen der langen Reise fasziniert, als wegen seiner Verbundenheit mit dem WG, obwohl er vor fast 70 Jahren dort sein Abitur gemacht hatte und dann aufgrund seiner Herkunft (er war Jude) aus Deutschland flüchten musste, um zu überleben.
 
Bei ihm war noch ein Herr seines Jahrgangs, der eben das erlebt hat, was Männern seines Jahrgangs damals in Deutschland blühte: das Dritte Reich, Krieg und russische Gefangenschaft (gemeint sicher Prof. Dr. Hanns-Theodor Flemming).
 
Diese beiden Herren, mit ihren ganz unterschiedlichen vitae, gerade in ihren Lebensjahren nach ihrem Abitur (also in meinem Alter) zu treffen oder besser: zu erleben, – und dennoch die gemeinsame Verbundenheit mit dem WG zu sehen, über Jahre und Schicksal hinweg, war für mich sehr eindrucksvoll.
 
 
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Helga Urbach zum 78. Geburtstag am 1. August 2002. Von Peter-Rudolf Schulz

Helga Urbach, Dr. phil. (Latein und Griechisch), lange Jahre Lehrerin am WG, seit etwa zwölf Jahren offiziell im Ruhestand, Generationen von WG-Schülern und WG-Schülerinnen bekannt, vor allem als rastlose und unermüdliche Protektorin unseres Schülerrudervereins, jetzt also 78 Jahre alt, trotzdem nach wie vor beinahe täglich in der Schule präsent und tätig, – hat vor kurzem vom Senat der Freien und Hansestadt eine Ehrenmedaille überreicht bekommen, als Dank und Anerkennung für ihre besonderen Verdienste und ihren ungewöhnlichen Einsatz.
 
Auf Wunsch und Bitte der Behörde hat zu diesem Anlass Peter-Rudolf Schulz (1951 einer ihrer ersten Schüler und jetzt derjenige aus dem Kreise des Kollegiums, der sie sicher am längsten kannte) auf einigen Blättern kurz zu skizzieren versucht, wie er sie all die Jahre hindurch gesehen und erlebt hat, – eine Skizze also aus ganz persönlicher Sicht. Daraus hier noch einmal einige Auszüge, z.T. gekürzt und leicht verändert:
 
„… Nach Studium, Doktorprüfung, Staatsexamen und Beginn des Referendariats an der Klosterschule erschien sie 1951 bei uns am Wilhelm-Gymnasium: als Referendarin im 3. Semester, übrigens einzige Frau unter lauter männlichen Lehrern. – Ich (damals selbst Schüler am WG), habe sie dort persönlich im Unterricht erlebt: Latein, Klasse G 10, bei Werner Rockel, und ich erinnere mich noch genau, dass sie auf uns 29 Jungen vom ersten Tag an ungewöhnlich couragiert und energisch wirkte, nicht zuletzt auch im Gegensatz zu einigen ihrer männlichen Mitbewerber ums Höhere Lehramt, die damals als Referendare bei uns auftauchten.
 
Danach, nach dem zweiten Staatsexamen, zunächst Fachlehrerin an der Klosterschule, bis Ende 1958 (auch noch nach der Geburt der ersten beiden Kinder). – Nach der Geburt des dritten Kindes Unterbrechung der Berufstätigkeit. – Insgesamt fünf Kinder (übrigens allesamt Schüler und Schülerinnen an unserer Schule).
 
Seit November 1970 war sie wieder am Wilhelm-Gymnasium tätig, zunächst vorwiegend im Lateinunterricht, den sie energisch und mit originellen Ideen durchführte: Geradezu legendär ihr Leistungskurs Latein mit dem Semesterthema „Lateinische Münzen und Inschriften“ und der abschliessenden Abiturarbeit über den Begriff des „pater patriae“ – und seine Verwendung in der römischen Tagespolitik, natürlich mit einer Fülle verschiedenster Quellen, die zu übersetzen und zu interpretieren waren. Unvergessen auch ihr Arbeiten mit dem wundervollen, heute leider verschwundenen Lehrbuch „De vita et moribus familiae cuiusdam Romanae“, bei dem es u.a. nicht ohne ein eigens dafür hergestelltes Lexikon – „Nokixel“ – abging). – Daneben setzte schon sehr bald ihre Mitarbeit im Schwimmunterricht der Unterstufe ein.
 
Anfang der 70er Jahre begann dann ihre Liebe zum Rudersport und ihr unermüdlicher Einsatz für unseren Schülerruderverein. Der Anstoss dazu kam meines Wissens von aussen, durch die begeisternde Erfahrung, die eine ihrer Töchter von einem kurzen Ruderlehrgang mitgebracht hatte. Frau Urbach muss sich damals in den Kopf gesetzt haben, dass sie diese begeisternde Erfahrung auch den Schülerinnen und Schülern unserer Schule vermitteln wollte und dass sie zu diesem Zweck den (von vielen schon fast totgesagten) GRV“H“ aus seiner Trägheit befreien und zu neuer Blüte und neuem Leben führen wollte.
 
Genau dies hat sie in kurzer Zeit erreicht. Sie hat es nicht nur geschafft, die Schüler und (zeitweise mehr noch) die Schülerinnen zu begeistern, sondern mit der ihr eigenen Beharrlichkeit hat sie unermüdlich auch bei Behördenstellen, Vereinen, Trainern, Eltern und Lehrern für die Sache, die inzwischen auch ihre Sache war, geworben. Nach einer groben Schätzung muss sie in diesen Jahren weit über tausend Briefe in unsere alte Schulschreibmaschine gehämmert und in alle Richtungen verschickt haben, dabei stets am Ball bleibend und
unbeirrt nachhakend, wenn der erste Anlauf nicht den gewünschten Erfolg hatte.
 
Als Kollege gehörte ich dabei oft zu den „Betroffenen“, denn da sich aus meinen damaligen Klassen stets besonders viele Schülerinnen und Schüler dem Rudern verschrieben hatten, verging kaum ein Projekt, kaum eine Klassenfahrt, ohne dass einige zwischendurch zum Training oder zu Regatten mussten. Selbst eine Fahrradtour über die dänischen Inseln oder eine Studienfahrt nach Griechenland war für Frau Urbach kein Hinderungsgrund, und sie hat immer gewonnen: Rudern ging vor, und schliesslich wäre ein ganzer Vierer oder ein ganzer Achter auseinandergebrochen, wenn nicht usw. … – Ich muss zugeben, dass ich in solchen Situationen nicht immer nur gut auf sie zu sprechen war, aber schon damals, wenn ich sie mit den Jungen und Mädchen am Steg und auf dem Wasser erlebte, überwog die Bewunderung für ihren Einsatz.
 
Ich glaube, ich habe auch erkannt, was der eigentliche Motor ihrer Tätigkeit war. Als sie begann, wurden in der Schulbehörde in der Hamburger Strasse gerade die berühmten „Allgemeinen Lernziele“ formuliert. Ich bin sicher,
dass Frau Urbach diese Texte nie gelesen hat, aber sie hat erfahren, dass genau die Dinge, die dort als Ziele formuliert waren (Verantwortung, Verlässlichkeit, Rücksichtnahme usw.), im täglichen Umgang mit den Jungen und Mädchen Wirklichkeit wurden, sowohl im alltäglichen Rudertraining wie im gemeinsamen Hinarbeiten auf Regatten und sportliche Erfolge, und diese Wirklichkeit war und ist ihr wichtig. So wichtig, dass sie auch in Zukunft damit nicht aufhören wird.“
 
 
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Abiturrede Gudrun Ullrich am Wilhelm-Gymnasium; 20. Juni 2002

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten!
 
Als ich gefragt wurde, ob ich an eurem Entlassungstag ein paar Worte an euch richten könne, antwortete ich mit einem entschiedenen Nein und einem kleinen und unentschlossenem Ja, auf dem ich jetzt sitzen geblieben bin.
– Einerseits weiss ich nicht, ob ich euch überhaupt etwas zu sagen habe, was eure Aufmerksamkeit findet, andererseits ist es mir durchaus ein Anliegen und Bedürfnis, euch, die ihr jetzt nach neun Jahren das WG verlasst und in die grosse, weite Welt hinauszieht, ein paar Abschiedsworte zuzurufen.
 
Viele, aber nicht alle von euch habe ich im Unterricht kennengelernt, dennoch glaube ich – im Bewusstsein meiner Standortgebundenheit, Parteilichkeit und reinen Subjektivität – sagen zu dürfen, dass ihr ein bemerkenswerter
Jahrgang gewesen seid, – und natürlich noch seid: da seht ihr mal, wie schnell man zur Geschichte wird!
 
Wie habe ich euch wahrgenommen? Eigensinnig (im positiven Wortsinn Hermann Hesses), selbstbewusst, skeptisch und kritisch, aber auch ein wenig unorganisiert, chaotisch und verspielt, dennoch offen, neugierig, kreativ – und, wenn es sein musste, von grosser Ernsthaftigkeit und mitreissendem Elan. Ihr wart der Jahrgang, auf den ich schon immer gewartet habe, der mich auf hohem Niveau reizte und herausforderte, mit dem ich gerne stritt und diskutierte, dem ich gespannt zuhörte, von dem ich lernen konnte, über den ich mich manchmal ärgerte und auf den ich mich immer wieder freute.
 
So liegen zwei Jahre der lebendigen und produktiven Zusammenarbeit hinter uns, in der wahrlich nicht die „Brotgelehrten“, sondern tendenziell eher die „philosophischen Köpfe“ regierten – eine Kategorisierung, wie sie Friedrich Schiller 1789 in seiner berühmten Antrittsvorlesung „Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ in Jena erfand. – Der „philosophische Kopf“, so Schiller zu seinen Studenten, „schreitet voran zu immer neuen Erkenntnissen und findet in seinem Gegenstand selbst Reiz und Belohnung, nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet ihn vom Brotgelehrten“. – Tendenziell und, soweit es der Schulalltag überhaupt zulässt, waren wir manchmal nah dran – am „philosophischen Kopf“!
 
Als ich in Schillers vor über 200 Jahren geschriebenen Vorlesung herumstöberte, tat ich dies natürlich nicht, um etwas über „Brotgelehrte“ und andere Köpfe in Erfahrung zu bringen, sondern weil ich, die ich einen Teil von euch
zwei Jahre in Geschichte und ein Jahr in Gemeinschaftskunde unterrichtet hatte, der Frage nach der Aneignung, dem Umgang und der Bedeutung von Geschichte im Wechsel der Zeiten bis heute nachgehen wollte, – einer Frage, die mir, wie ihr wisst, besonders am Herzen liegt.
 
1789 bewegte sich Schiller noch voller Optimismus im historischen Diskurs der Aufklärung: „Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte, in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt.“ – Schiller ging von einer
sich stufenweise vollziehenden Sinngebung der Geschichte durch die Vernunft aus. Sein Jahrhundert, das 18., hielt er für ein „menschliches Jahrhundert“, auf das die anderen Jahrhunderte, ohne es zu wissen, nach dem Gesetz der Vernunft zugearbeitet hätten (Hegels Weltgeist und seine List der Vernunft lassen schon grüssen!). In der Anwendung der historischen Erfahrungen auf die Gegenwart und Zukunft sah Schiller letztlich den tiefsten Sinn der Geschichte; der Geschichtsschreibung wies er eine auf die Gegenwart orientierte Erkenntnisfunktion zu. Geschichte solle gerade in der Gegenwart wirksam werden und nicht zu einer Flucht in die Vergangenheit führen. „Die Geschichte heilt uns von der übertriebenen Bewunderung des Altertums und von der kindischen Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, und indem sie uns auf unsere eigenen Besitzungen aufmerksam macht, lässt sie uns die gepriesenen goldenen Zeiten Alexanders und Augustus‘ nicht zurückwünschen.“ – So weit der politische, der aufgeklärte Schiller; – wohl dem, der wie er im Jahrhundert der Vernunft zu Hause war!
 
Aber auch die Geschichtsschreibung mit ihren Versuchen, Geschichte zu deuten und ihr – nachträglich – einen Sinn zuzuschreiben, unterliegt dem historischen Wandel, wird selbst zur Geschichte. – Ganz anders als Schiller formulierte etwa im 19. Jahrhundert der Historiker Leopold von Ranke sein Objektivitätspostulat: Es sei Aufgabe der Geschichtsschreibung, „bloss zu zeigen, wie es eigentlich gewesen ist“. – Der Glaube der Historiker, sie könnten ihre historischen Darstellungen auf objektive Fakten gründen und zur historischen Wahrheit führen, basierte im realistischen 19. Jahrhundert auf der Gewissheit, dass die Wirklichkeit objektiv wahrnehmbar sei.
 
Heute ist die Wirklichkeit zu einem erkenntnistheoretischen Problem geworden, und so provozieren gerade die Fakten mit ihrem Anspruch auf Wahrheit Zweifel: Wie zuverlässig sind Fakten? Wer wählt sie aus? Wie gelangen sie in das kollektive Gedächtnis? Ist dem Erkenntnis-Subjekt überhaupt zuzutrauen, das erkenntnisunabhängige Objekt abzubilden? Oder entspricht dies nur noch der Vorstellung eines naiven Realismus?
 
Schon Walter Benjamin, Kulturhistoriker, Kritiker und Schriftsteller, der 1933 Deutschland verlassen musste, schrieb 1940 in seiner Schrift „†Über den Begriff der Geschichte“: „Vergangenes historisch artikulieren heisst
nicht, es erkennen, wie es denn eigentlich gewesen ist. Es heisst, sich einer Erinnerung bemächtigen.“ – Selbst Vertretern der reflektierten Realismusposition, die sich Rechenschaft über die Schwierigkeit ablegen, eine adäquate Reproduktion vergangenen Geschehens darzustellen, und davon überzeugt sind, dass die Standortgebundenheit und subjektive Einfärbung des Erkennenden das historische Objekt durchsetzen und im Grunde schon verändern, bevor es erkannt wird, wird heute von Vertretern des „linguistic turn“ oder der Foucaultschen Diskursanalyse „verstockter Positivismus“ vorgeworfen. – Geschichte kann sich ihres Gegenstandes nicht mehr sicher sein. Schon wird von der „unsicheren Geschichte“ gesprochen. – Geschichte sei
 
verschieden, verschieden, verschieden!
 
Und freilich entwickelt die Geschichte eine Dynamik, die durch Zweifel entsteht, die das jeweils behauptete Faktum und die jeweilige Deutung erwecken. Geschichte wird so zum endlosen Dialog auf der unendlichen Suche – vielleicht doch nach Wahrheit….?
 
Jetzt stellt sich die Frage neu: Wozu und zu welchem Ende noch Geschichte? – Gelten die berühmten Worte des uns wohlbekannten grossen Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt nun nicht mehr? „Der Geist muss die Erinnerung an sein Durchleben der verschiedenen Erdenzeiten in seinen Besitz verwandeln. Was einst Jubel und Jammer war, muss nun Erkenntnis werden […]. Damit erhält auch der Satz ‚Historia vitae magistra‘ einen höheren und zugleich bescheideneren Sinn. Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal), als vielmehr weise (für immer) werden.“
 
Freilich greift Burckhardt hier zu den Sternen der Erkenntnis, aber ernstzunehmen bleiben seine Worte dennoch, wert, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Allerdings dürfen wir es uns im Umgang mit der Geschichte und der Geschichtsschreibung nicht mehr so leicht und einfach machen, müssen wir lernen, uns als aktive, prüfende, hinterfragende, kritische Teilnehmer in den historischen Diskurs einzuschalten, müssen wir lernen, uns in These und Antithese zu orientieren und Schlüsse zu ziehen, denen ein gewisser Vorbehalt eigen ist. Nichts hat sich sonst an der Einsicht von Marc Bloch, einem grossen französischen Historiker, Mitglied der RŽsistance, 1944 von den Nationalsozialisten ermordet, geändert, dass nämlich das „Unverständnis der Gegenwart gegenüber zwangsläufig
aus der Unkenntnis der Vergangenheit entstehe“.
 
Schon Thukydides nahm für seine Darstellung des „Peloponnesischen Krieges“ im 5. Jahrhundert v. Chr. in Anspruch, das Buch nicht zur einmaligen Unterhaltung, sondern als Besitz für immer geschrieben zu haben. In der letzten Literaturbeilage der ZEIT – verzeiht, aber einmal musste dieses Blatt heute genannt werden! – rät Jens Jessen, „Keine Angst vor Thukydides“ zu haben, sondern bei ihm, am Beispiel Athens und des sogenannten Melierdialogs (zwischen den Gesandten Athens und dem Rat der Insel Melos, der sich auf das Recht der Verträge
beruft, die die Grossmacht Athen allerdings nicht einzuhalten gewillt ist), zu studieren, wie die politische Dynamik der Macht und ihr tödliches Wesen sich entfalten – und wie es zu einem Imperialismus aus Notwehr zwecks vorsorglicher Verteidigung der eigenen Lebensform kommt. – Analogien zur Gegenwart sind erwünscht: auch das heisst: aus der Geschichte lernen.
 
Wie wollte man heute den Nahost-Konflikt verstehen, wüsste man nichts von seinen Wurzeln, seinem Ursprung, seiner Geschichte? – Wie liesse sich eine vom Mediengeschrei unabhängige und sensible Meinung über den sogenannten Antisemitismusstreit bilden, hätte man keine Kenntnisse über die Geschichte der Judenfeindlichkeit und des sogenannten modernen Antisemitismus vom Mittelalter über das deutsche Kaiserreich bis zu den mörderischen Exzessen der nationalsozialistischen Diktatur? – Nur über das reflektierte, problembewusste,
kritische Studium der Geschichte gewinnen wir Einsichten, Urteilsvermögen, innere Freiheit, Unabhängigkeit im Denken und eigene Identität, die das Verstehen der Gegenwart ermöglichen und vielleicht sogar das aktive Eingreifen in das Geschehen der Gegenwart als Notwendigkeit erscheinen lassen. Nietzsche hat es 1874 so gesagt – gestattet mir ein letztes Zitat : „Wir brauchen die Historie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat.“
 
Wie das geht, habt ihr schon versuchsweise vorgemacht: Ihr „philosophischen Köpfe“ habt, um der historischen und politischen Erkenntnisse willen, geackert und gearbeitet (z.B. mit dem Archivmaterial des WG, als ihr versuchtet, die Geschichte der NS-Zeit an unserer Schule zu erforschen), habt dabei unbequemen Entdeckungen standgehalten, Widersprüche ausgehalten, Einsichten gewonnen, die Selbständigkeit im Urteil verrieten und zum Handeln aufforderten.
 
Bleibt euch in diesem Sinne treu, – dann ist für eure, aber auch für unsere Zukunft schon viel gewonnen – Und: Vergesst die Träume und das Träumen nicht!!!
 
Wir wünschen euch von Herzen alles Gute!
 
 
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Abiturrede Prof. Johannes Beutler SJ (Rom; Abit. WG 1952) am Wilhelm-Gymnasium, 20. Juni 2002

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten 2002 des Wilhelm-Gymnasiums, liebe Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, liebe Gäste,
 
ich danke meiner alten Schule ganz herzlich, dass ich heute als Vertreter des Abiturjahrgangs 1952 hier zu Ihnen sprechen darf. Es war nicht ganz selbstverständlich, dass man zu diesem Anlass auf einen Jesuiten aus Rom
verfällt. Umso dankbarer bin ich, dass es möglich wurde.
 
Vermutlich interessiert Sie vor allem, was ich von meiner Schulzeit am WG 1946 – 1952 mitnehmen konnte. Lassen Sie mich damit beginnen, was ich weitgehend nicht mitgenommen habe: Es sind die vielgestaltigen Lerninhalte,
die wir in diesen Jahren in uns hineingestopft haben oder die auch in uns hineingestopft wurden. Nach einer berühmten französischen Definition gilt: „Ƀducation c’est ce qui reste, quand on a tout appris et tout oubliŽ“ –
„Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man alles gelernt und alles wieder vergessen hat.“ – In diesem Sinne hat uns das WG hervorragend gebildet: Von der damals gelehrten und gelernten Mathematik ist bei mir als Philologen
und Theologen fast nichts übrig geblieben ausser den vier Grundrechenarten, und auch die am liebsten mit dem Taschenrechner praktiziert. Mehr weiss ich noch aus den Bereichen von Physik, Chemie und Biologie, vermutlich,
weil sie anschaulicher waren. Hier sind durchaus Erinnerungsreste verblieben, manchmal verbunden mit Hobbyinteressen wie der Astronomie (der Zunft meines Patenonkels an der Hamburger Sternwarte), manchmal im Zusammenhang mit meinen späteren Studien der Philosophie, näherhin der Naturphilosophie in Frankfurt und München. – Heute werden Grundkenntnisse auch bei moralphilosophischen und -theologischen Problemen verlangt wie bei der zur Zeit laufenden Debatte um Genforschung.
 
Stärker geprägt haben mich die Sprachen, weil hier das im weiteren Sinne humanistische  Anliegen der Schule leichter zu vermitteln war. Es war nicht nur der Unterricht in den alten Sprachen, der uns und mich persönlich stärker ansprach, sondern auch derjenige der neuen wie Deutsch oder Englisch. Ob es „Vanity Fair“ war oder Erzählungen von Hermann Hesse: hier wurde menschliche Erfahrung vermittelt. – In bleibender Erinnerung sind mir vor allem platonische Dialoge geblieben: Eine Abneigung gegen formalen Sophismus hat sich wohl uns allen aus solchen Stunden der Lektüre bleibend mitgeteilt.
 
Aber damit bin ich auch schon bei den Lehrerpersönlichkeiten. Sicher haben sie uns stärker geprägt als die von ihnen vorgetragenen Inhalte. Diejenige Gestalt, die in den letzten Schuljahren wohl den bleibendsten Eindruck
auf uns von der G13b gemacht hat, war unser Klassenlehrer Dr. Herbert Drude. Dabei stehen noch einmal die normalen Unterrichtsstunden hinter dem Aussergewöhnlichen zurück. Dazu kann man schon zählen, dass Dr. Drude uns an heissen Sommertagen mit aufs Dach nahm, um den Unterricht mit einem Sonnenbad zu verbinden.
– Etwa ein Jahr vor dem Abitur begleitete er uns auf einer Klassenreise per Fahrrad die Lahn hinunter von Kassel bis zum Rhein. Immer wieder, wenn wir vor einer Sehenswürdigkeit standen, für die wir Banausen nicht den rechten Respekt aufbrachten, sagte er zu uns, in seinem rauhen Männerton: „Bewundern!“ – Der eher zurückhaltende Mecklenburger hatte Tränen in den Augen, als er uns vor Weihnachten eine Erzählung von Dostojewski vorlas (den er Russisch zu lesen verstand).
 
Ich sah ihn viele Jahre später noch einmal mit Tränen in seinen Augen, als ich 1963 in Bergedorf meine erste Heilige Messe feierte. Dr. Drude war damals aufgrund eines Schlaganfalls teilweise gelähmt und an den Rollstuhl
gefesselt. In diesem erschien er aber von Langenhorn aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln, von seiner Lebensgefährtin begleitet, um an meinem Gottesdienst teilzunehmen. Als ich sagte: „Aber Herr Dr. Drude, dass Sie so weit hierher gekommen sind …!“, sagte er nur: „Aber das ist doch selbstverständlich!“.
 
Zu den für mein späteres Leben wichtigen Gestalten gehörten natürlich auch, und dies in hohem Masse, unsere katholischen Religionslehrer aus dem Jesuitenorden. Der Unterricht musste damals in Früh- oder Spätstunden gehalten werden. Zu den Frühstunden musste man sich von Bergedorf aus schon vor sechs Uhr auf den Weg machen. Ich habe es nie bereut. – Die gleichen Patres, die den Unterricht gaben, waren auch unsere geistlichen Gruppenleiter in der Katholischen Studierenden Jugend (Bund Neudeutschland). So lernten wir sie auch als Menschen und Seelsorger kennen, konnten bei ihnen Exerzitien machen und entscheidende Impulse für unser späteres Leben gewinnen.
 
Lassen Sie mich auch ein Wort sagen zu den Rahmenbedingungen dieser Hamburger Schulzeit von 1946 bis 1952. Ich kam Ostern 1946 aufs Wilhelm-Gymnasium, da der gymnasiale Zweig an unserer wiedereröffneten Bergedorfer Hansaschule erst vom kommenden Jahr an wieder eingerichtet werden sollte. So wurde ich für sechs Jahre Fahrschüler, zusammen mit einer Reihe von Klassenkameraden aus Bergedorf oder dem Sachsenwald, mit denen ich z.T. noch heute – nach unendlich vielen Skatrunden in der Bahn auf der Rückfahrt (auf der Hinfahrt
präparierten wir noch unsere Texte) – Verbindung halte. – Ein Bild hat sich mir unauslöschlich eingeprägt: dasjenige von vielen Kilometern Trümmern, durch die ich täglich zweimal fahren musste. Von Tiefstack über Rothenburgsort und Hammerbrook bis nach St. Georg zwischen Berliner Tor und Hauptbahnhof stand kaum noch ein Haus.
 
Wir dachten als Schüler noch nicht zu intensiv darüber nach, worauf diese Zerstörung zurückzuführen war, wenigstens nicht in den ersten Jahren der Unter- und Mittelstufe. Später schon. Dass nie wieder Krieg sein möge, war ein Wunsch, der sich fest in mir verankert hat. Er hat später meine Theologie und auch meine wissenschaftliche Interpretation der Bibel geprägt und tut dies bis heute. Ich habe in den siebziger und achtziger Jahren an Veranstaltungen, Gebeten und Demonstrationen der Friedensbewegung teilgenommen. Unvergesslich
die ökumenischen Gebete vor dem Stationierungsgelände von NATO-Mittelstreckenraketen in Hasselbach im Hunsrück, etwa in der Weihnacht oder der Osternacht, wo wir Kerzen in die Tore dieser Anlagen des Todes steckten. Wir sollten noch erleben, dass diese Waffe tatsächlich abgezogen und beseitigt wurde. Ich trat 1987 auch formell der Katholischen Friedensbewegung Pax Christi bei und bin, auch aufgrund meiner zahlreichen Israelbesuche wie meiner Bibelstudien, korrespondierendes Mitglied der Arbeitsgruppe Nahost von Pax Christi Deutschland. Irgendwie hat das alles mit dem Erlebnis des Krieges und der Nachkriegszeit, aber auch mit dem Erschrecken darüber zu tun, was mit den Juden bis 1945 geschehen war.
 
Fachlich habe ich besonders auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen Altem und Neuem Testament gearbeitet, zuletzt im Rahmen der Päpstlichen Bibelkommission, in der wir vor kurzem einen Text über „Israel und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ veröffentlicht haben.
 
Was unsere Schulzeit gleichzeitig prägte, war der Hunger. In den ersten Jahren nach dem Krieg gab es einfach nicht genügend zu essen, vor allem für kinderreiche Beamtenfamilien. Manchmal durften wir einfach dem Unterricht fernbleiben, weil wir auf den Feldern der Güter östlich von Bergedorf Erbsen pflückten, Ähren nachlasen oder Kartoffeln nachhackten. Ich habe auch noch den Geruch der Schulspeisung in der Nase, die uns die Alliierten für unsere Schulpausen ermöglichten: süsslich und manchmal auch ekelerregend. Trotzdem: beim Klingelzeichen stürmten wir die Treppe hinunter, zwei bis drei Stufen auf einmal, damit wir in der Reihe so weit vorne anstanden, dass wir gute Aussicht auf einen Nachschlag hatten. – Ich kann bis heute kein Stück Brot wegwerfen; auch das gehört zu dem, was ich aus der Schulzeit mitgenommen habe.
 
Insgesamt mussten wir damals mit Wenigem zufrieden sein, – auf allen Gebieten. Unser Schulgebäude war dasjenige der Albrecht-Thaer-Oberrealschule am Holstenglacis. – Schon mein Grossvater hatte dieses Haus noch im 19. Jahrhundert „das graue Haus“ genannt. Es war durch durch Krieg und Bombenzeit weiter heruntergekommen. In der ersten Zeit waren die herausgefallenen Fenster z.T. noch mit Pappe und Glaspapier verklebt. Die Wände und Treppenhäuser waren schmutzig, die sanitären Anlagen im Keller unbeschreiblich. – Aber wir lernten, – und lernten dabei auch, auf das Wesentliche zu achten. – Was zählte, waren menschliche Beziehungen, sowohl von Lehrern zu Schülern, wie auch bei den Schülern untereinander. – Die Beziehungen gestalteten sich vielleicht auch deshalb direkter, weil die Welt der Medien damals noch keinen Einzug in die Schulen gefunden hatte. Es gab selbstverständlich noch keine Computer. Projektoren für Dias und Bildvorlagen waren eine Seltenheit. Es galt das gesprochene Wort, – in jeder Hinsicht.
 
Aus der Sicht meines heutigen Arbeitszimmers am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom wirkt das wir eine archaische Welt. Der Computer speichert heute nicht nur alle meine Arbeitsergebnisse, sondern enthält auch eine Fülle
von Hilfsmitteln, von den CDs, die die gesamten Texte der Antike bereit halten, bis zur e-mail, die täglich auf mich einflutet, mir aber auch fachliche Kontakte in alle Welt hinein ermöglicht. Dennoch sehne ich mich manchmal
nach diesem „einfachen Leben“ meiner Schülertage. Ich sehne mich danach, mit der G13 b noch einmal in Ruhe einen Platontext zu lesen, zu analysieren und zu diskutieren. – Die Arbeit ist schnellebiger geworden, vielleicht
auch ein Stück oberflächlicher. Es wäre gut, sich ein Stück von der Unmittelbarkeit zu den Texten und Stoffen zu erhalten, die wir einmal vor dem Umstieg auf den Computer besessen haben, auch und gerade in unserer damaligen Schulzeit.
 
Was wünsche ich Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten 2002 des WG? – Ich wünsche Ihnen eine dreifache Form der Bildung.
 
Zunächst wünsche ich Ihnen Bildung des Kopfes. Die meisten von Ihnen werden ein Hochschulstudium beginnen. Bleiben Sie geduldig, behalten Sie die †Übersicht, wenn Sie sich weitere Wissensinhalte in den Kopf stopfen müssen – oder man sie in Ihre Köpfe hineinstopft. – Wie anders sollten Sie sonst zu der eingangs geschilderten Form von Bildung im Sinne des französischen Sprichworts gelangen?
 
Mehr noch, und auch ernster, wünsche ich Ihnen die Bildung Ihres Verstandes, Ihrer Urteilsfähigkeit. Sie wird nicht nur für Sie selber wichtig sein, sondern auch für die Welt, in der wir leben und in der Sie und Ihre Kinder einmal leben werden. Lassen Sie sich dafür auch Zeit und Raum, suchen Sie Gesprächspartner, nutzen Sie Sommerakademien, die Ihren Horizont erweitern, auch über Ihr engstes Fachgebiet hinaus. – Zu den schönsten Erinnerungen der letzten Jahre gehören für mich solche Akademien der Studienstiftung in Südtirol, wo wir – zwei Theologen – grundlegende Fragen des Glaubens und des Ethos mit Studierenden aller Fachrichtungen besprechen konnten. – Mit einigen von ihnen verbindet uns noch heute persönliche Freundschaft.
 
Damit komme ich zu meinem letzten Wunsch: Suchen Sie die Bildung des Herzens. – „Herzensbildung“ hat zugegebenermassen einen schlechten Ruf. Man sagt sie Menschen nach, die es zu anderen Formen der Bildung nicht gebracht haben. Und doch ist diese Form der Bildung die entscheidende. – Der „Betende Knabe“, der unsere Schule von der Moorweide über das Holstenglacis und das Kaiser-Friedrich-Ufer bis hier an die Alster begleitet hat, steht für eine Bildung, die mehr als nur Wissen vermitteln will. Sie meint den Menschen, der sich bewusst dem Absoluten verdankt.
 
Zur Bildung des Herzens gehört natürlich auch – und nicht zuletzt – die Fähigkeit, Freundschaft und Partnerschaft zu leben. – So klingt denn dieser Abend mit Recht aus in den Ball im Logenhaus. – Ich wünsche Ihnen und uns
dabei viel Freude: „Nunc est bibendum, nunc pede libero pulsanda tellus …“, wie ich mit Horaz (carm. 1, 37) enden darf.
 
 
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Nachruf auf Hannsjürgen Harms

Hannsjürgen Harms. – Schüler des WG bis zum Abitur 1939, danach zunächst Kriegsdienst, nach 1945 Studium (vorwiegend Klassische Philologie), anschliessend lange Jahre als Lehrer am WG tätig, Protektor des GRV“H“, zuletzt im Ruhestand lebend, im Dezember 2001 gestorben. – Der folgende Text: 22.12.2001
 
Alle Eingeweihten wissen es: Es gibt Lehrer, wenn die sterben, ist die Schule nicht mehr das, was sie vorher war. – Zu ihnen gehörte Hannsjürgen Harms. Er ist vor einigen Tagen in seinem Haus in Rissen nach langer und
schwerer Krankheit gestorben und vorgestern, am letzten Donnerstag, auf dem Sülldorfer Friedhof beigesetzt worden.
 
Er war, in seiner eckigen und kantigen Art, sicher nicht immer jedermanns Sache, vertrat auch gelegentlich Ansichten, die nicht alle teilen mochten, aber er gehörte zum WG wie kaum ein anderer. Er war – auch in den letzten Jahren noch – stets zur Stelle, wenn er gebraucht wurde, z.B. bei den jährlichen Septembertreffen der Abiturjubilare (selbst dann noch, wenn er es körperlich eigentlich nicht verantworten konnte), hatte dann stets sofort und mühelos Kontakt zu Schülern und Schülerinnen der verschiedensten Jahrgänge, die er alle kannte, und – dies vor allem -: er kämpfte engagiert und temperamentvoll, wenn es darum ging, das WG seiner Schülerjahre, also das WG der NS-Zeit, zu verteidigen und vor Verdächtigungen jeglicher Art zu schützen. Immer wieder hat er sich zu diesem Thema auch schriftlich geäussert, mutig und eindeutig, und als die Frage war, wer 1981, bei der Feier unseres 100-jährigen Jubiläums, die Festrede zur Geschichte der Schule halten sollte, war er es, der reden sollte und reden wollte. Sein Hauptthema: „Die Menschlichkeit und Liberalität an unserer Schule unter der Herrschaft der Nationalsozialisten“.
 
Sein liebster und wichtigster Wunsch der letzten Jahre ist ihm nicht erfüllt worden: Er hat mit Hingabe die Daten aller Gefallenen des letzten Krieges erforscht und zusammengestellt (für ihn nicht nur Namen, denn er kannte sie fast alle): Er wünschte sich eine Inschriftenwand, eine Gedenktafel, auf der sie alle zu lesen wären, vielleicht auch nur ein Buch auf einem Lesepult, dachte dabei zuletzt natürlich auch an die neue Aula, aber es ist nichts daraus geworden. Die Widerstände – von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Motiven – waren zu gross. Alle, die ihn kennen, wissen, dass er unter dieser – für ihn  unverständlichen – Position bis zu seinem Ende gelitten hat und dass er dadurch (und durch die Auseinandersetzungen, die damit zusammenhingen) langsam auch in eine innerliche Distanz zum heutigen WG geriet, die ihm viel von seiner Lebenskraft geraubt und ihn zunehmend verbittert hat. – Dennoch: Bei unzähligen Schülern und Lehrern ist er unvergessen, und ganz gewiss ist ihm dies auch bis zum Schluss bewusst gewesen.
 
Schulz, 22.12.2001
 
 
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Walter Gerhard: Zum Tode von Dr. Hagen Lenthe. Ansprache in der Aula Kaiser-Friedrich-Ufer, 30. Juni 1955

Mit der folgenden Ansprache hat es eine besondere Bewandtnis. Sie ist damals, 1955, nirgends publiziert worden, denn keiner hatte den Text, aber: sie war berühmt, es wurde viel von ihr gesprochen und: immer wieder danach gefragt, auch jetzt noch, nach fast fünfzig Jahren. – Dr. Lenthe also, geliebt und geschätzt, einer der jüngeren Lehrer am WG, Fachlehrer für Deutsch und Geschichte, war während einer Klassenfahrt mit seiner damaligen O 12 plötzlich zusammengebrochen und kurz darauf gestorben. – Die Ansprache in der Aula, nur wenige Tage danach, sollte (und wollte!) Dr. Gerhard halten, Walter Gerhard also, auch er Lehrer für Deutsch und Geschichte. – Alle, die ihn noch kennen, wissen es: er war ein Lehrer, der sich für sein Fach und seinen Unterricht verzehrte, wie kaum einer, und der von sich und seinen Schülern stets nur das Äusserste erwartete und verlangte – und verzweifelte, wenn die Schüler ihn enttäuschten. – Was damals, als er die Rede hielt, keiner wusste und wohl kaum einer wirklich ahnte: nur acht Tage danach war auch Dr. Gerhard tot, hatte sich das Leben genommen.
– Nachträglich erschien seine letzte Ansprache dann natürlich in einem ganz besonderen Licht, und es ist verständlich, dass fast alle, die sie in der Aula gehört hatten, zumindest die Älteren, den einen Wunsch hatten: sie nun noch einmal zu hören oder wenigstens: zu lesen, – jetzt mit ganz anderen Augen …

 
Hier ist sie also, abgeschrieben aus einem z.T. nur mühsam lesbaren Text, der zufällig, zwischen ganz anderen Dingen, in unserem Archiv aufgetaucht ist: das Märchen vom Gevatter Tod …
 
Sehr verehrte Angehörige, liebe Kollegen, liebe Schüler!
 
Eines der kürzesten und doch tiefsten Märchen der deutschen Literatur ist jenes vom Gevatter Tod. Wir kennen es alle: Ein Vater geht aus, für seinen Sohn einen Paten zu suchen, aber einen, der nichts ist als gerecht. In diesem Vorsatz zeigt er sich anspruchsvoll und unerbittlich. Selbst dem Herrgott, der ihm begegnet, gibt er eine Absage: von ihm könne man wirklich nicht behaupten, meint er, dass er gerecht sei, da er den einen mit Glücksgütern
segne, den anderen im Elend verkommen lasse. – Auch der Teufel, der Herr der Unterwelt, sagt ihm nicht zu als Gevatter seines Jungen. Der stellt ja seine Sache auf Lug und Trug und lockt mit falschen Versprechungen die
Leichtgläubigen, die sich ihm verschreiben, ins Verderben. – Aber dem Tode entgegnet er, als der ihm als dritter die Patenschaft anbietet: „Ja, du bist der rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied, du sollst mein Gevattersmann sein.“
 
Der Tod antwortet: „Ich will dein Kind reich und berühmt machen, denn wer mich zum Freunde hat, dem kann’s nicht fehlen.“ – Bei der Taufe stellt sich denn der Tod auch wirklich ein, und steht, wie es im Märchen heisst, „ganz ordentlich Gevatter“.
 
Wir wissen alle, worin das Patengeschenk dieses gerechten Gevatters bestand: Er versprach, wenn der Junge gross und ein Arzt geworden sei, ihm anzuzeigen, wie es um seine Kranken bestellt sei: Stehe er, der Gevatter Tod, zu Häupten des Bettes, so solle er, der Arzt, sagen, er werde ihn gesund machen; stehe er aber zu dessen Füssen, so solle er sagen, alle Hilfe sei umsonst, gegen diese Krankheit sei kein Kraut gewachsen. – Bei solchen Worten vergass er nicht, ihm, dem Patenkind, das wunderbare Kraut zu geben, das gegen die Krankheit gewachsen sei.
 
Der Arzt wurde, wie nicht anders zu erwarten, berühmt. Wie sollte er nicht berühmt werden, da seine Diagnose unfehlbar und seine Kunst von unbedingter Heilkraft zu sein schien.
 
Aber sein Verderben war es, als er, der so vom Tode selbst, dem grossen Herrn, beruflich auf jede Art begünstigte und geförderte Arzt, der Versuchung erlag, mit menschlichen Mitteln seinen mächtigen Gevatter zu täuschen:
Nachdem er zweimal den Tod hinters Licht geführt hatte, indem er das Bett des Kranken umkehrte, führte ihn der Unerbittliche mit seiner eiskalten Hand in eine Höhle, in der tausend und tausend Lichter in unübersehbaren
Reihen brannten, einige gross, einige halbgross, einige klein. – „Zeig mir mein Lebenslicht“, bat der Arzt, und meinte, es wäre noch recht gross. Der Tod aber deutete auf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte, und sagte: „Siehst du, da ist es.“ – „Ach, lieber Pate“, sagte der erschrockene Arzt, „zünde mir ein neues an, tu’s mir zuliebe, damit ich meines Lebens geniessen kann.“ – „Ich kann nicht“, antwortete der Tod, „erst muss eins verlöschen, eh‘ ein neues Lebenslicht anbrennt.“
 
Wie stand es nun mit dem Tode? Hatte er sich gegenüber dem kleinen Menschen, der ihn hinter das Licht, hinter das Lebenslicht zu führen versucht hatte, gerecht betragen? – „Ich kann nicht“, hatte der Tod geantwortet: ein wunderbares, ein rätselhaftes Wort. Warum kann er nicht helfen? Weil sich neues Leben nur am Tode entzündet, weil er selbst, letzten Endes, indem er der Gesetzmässigkeit der Kerzenschicksale zusieht, nicht nur ihr Vollstrecker ist, sondern auch Diener lebendigen, leuchtenden Neubeginns. –
 
Als Kind habe ich dieses Märchen immer und immer wieder gelesen, – vielleicht, weil ich es nicht im letzten zu verstehen vermochte, vielleicht aber auch, weil ich schon mehrmals als kleiner Junge, an der Hand meines Vaters, von Station zu Station, den Holbeinschen Totentanzfries in der Lübecker Marienkirche abgeschritten war. –
 
Das war für mich, der ich die Braunschweiger Totenuhr bereits kannte – und häufig zugesehen hatte, wie der Knochenmann um zwölf Uhr mittags mit seinem knöchernen Schlegel zum Apostelzug auf die Lebensglocke schlug, – ein grosses Erlebnis. Wie störrisch und stolz auf dem Kirchengemälde der König an der Hand des Todes dahinschritt, wie gespreizt-verblendet der Edelmann, wie gewichtig-überheblich der Bürger, wie tolpatschig-ergeben der Bauer, wie unwissend-überrascht die Jungfrau, wie stolpernd-dumm und unwissend: das Kind.
 
Man muss wohl, denke ich, in den Bereich eines Lebensalters geraten sein, das irgendwie der Gesetzmässigkeit oder der Zufälligkeit des Todes im Lebensgefühl Raum geben muss, um die Hintergründigkeit allen Lebens spüren zu können. Man sieht sich eines Tages um und erkennt, dass dem Leben des Menschen der Stachel des Todes stets an die Hüfte gesetzt ist. Nicht eigentlich der Krieg ist es, der nun einmal den Tod in sein grässliches Programm einbezogen hat, uns gleichsam den improvisierten Tod gleichsam ad oculos demonstriert, nein: der zivile, der plötzliche Strohtod ist es vielmehr, der uns immer wieder abrupt zur Besinnung zwingt, jener Tod nämlich, der ausserhalb der Berechnung liegt, der unwahrscheinliche, furchtbar plötzliche, blitzartig zuschlagende, – mit einem Wort: der Tod, welcher uns grauenhaft, ungerecht, sinnlos erscheint. –
 
Es liegt im Sinn jugendlicher Unbekümmertheit, dass auch die Worte der Barmherzigen Brüder aus Schillers „WilhelmTell“, in der Unterrichtsstunde gehört und durchgenommen, nur gerade an die Oberfläche des Bewusstseins dringen. Die meisten von euch, liebe Jungen, haben diese Worte gelesen. – Wer, wer, frage ich, konnte sie begreifen? – Wem sind sie mehr gewesen als der mehr oder minder erhebliche Teil einer Unterrichtsstunde: Wilhelm Tell, Vierter Aufzug, Schluss, wo Gesslers Tod vom Chor der Barmherzigen Brüder mit einer Binsenweisheit glossiert wurde? – Da liest denn ein Schüler, stockend, stolpernd, pennälerhaft-unzulänglich die Worte:
 
Rasch tritt der Tod den Menschen an,
 
Es ist ihm keine Frist gegeben,
 
Es stürzt ihn mitten in der Bahn,
 
Es reisst ihn fort vom vollen Leben,
 
Bereitet oder nicht, zu gehen,
 
Muss er vor seinem Richter stehen.
 
Da hört der Durchschnittsschüler die glatten Verse und denkt: „Wie theaterwirksam, wie opernhaft, diesen plötzlichen Gesslertod so apostrophieren zu lassen.“ – Aber eines Tages, plötzlich, gewinnen diese gleichen Verse Gehalt und Gestalt: Da sieht der Schüler möglicherweise ein Kind, grässlich vom Auto verstümmelt und entstellt, auf der Strasse liegen, oder: Er geht selbst hinter einem Sarge her, in welchem er einen Menschen liegen weiss, starr und stumm, mit dem er gestern noch gescherzt, der ihm gestern noch seine Liebe bezeugt und in dessen Hand er sich gestern noch geborgen wusste. –
 
So, genau so, erging es einer Klasse unserer Schule, die gestern noch mit ihrem Lehrer hinausfuhr zu grosser Fahrt, – frohgemut, ledig aller lästigen Schulpflichten, übermütig – und einer Zeit jugendlichen Zusammenlebens und fröhlicher Wanderlust, in unbekannter, schöner Landschaft gewärtig.
 
Sie lachten, sie lärmten, schon auf der Eisenbahnfahrt, sie gebärdeten sich, wie Jungen, die sich losgelassen fühlen, eben gebärden: sehr laut, sehr wild, ihre jungen Stimmen in der ausgelassenen Fahrten- und Ferienstimmung auslassend. – Und er … sass dabei, der verehrte Lehrer, von dem sie wussten, dass er in Erinnerung an seine eigene Jugend mit liebevollem Verständnis zu ihrem ausgelassenen Tun schmunzeln würde, er, dem der jugendliche †berschwang seiner eigenen Schulzeit noch in den Ohren klang:
 
Die Jugend braust,
 
Das Leben schäumt … —
 
Ich bin überzeugt, keiner der jungen Springinsfelde kannte jene Verse, die der junge Rilke, der Hellhörige, krankhaft Feinfühlige, dämmerig Leidende, einsam Absonderliche geschrieben hatte. – Gott, wie sollten sie auch? –
Und wenn sie sie einmal gehört hatten, so waren diese Worte gewiss überdeckt worden von all dem Lauten in und um uns, von dem unser Herz zugedeckt wird wie von einem Aschenregen. – Die Verse heissen so (Schlussstück aus dem „Buch der Bilder“, 1906):
 
Der Tod ist gross.
 
Wir sind die Seinen
 
lachenden Munds.
 
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
 
wagt er zu weinen
 
mitten in uns.
 
Und dann geschah es eben, wie es mitunter zu geschehen pflegt: Man erreichte das Ziel, die Jugendherberge, die Schüler mit ihrem Lehrer, man warf sich dem Erleben der ungebundenen Ferientage entgegen, man durchstürmte die Landschaft, man genoss die Ungebundenheit der Situation, fern vom Schulalltag mit seiner strengen Pflicht und Gesetzlichkeit, man dachte sie auszukosten in jeder Richtung. – Wer von den jungen Menschen dachte daran, es könnte ein Lebenslicht in ihrer Mitte gefährlich niedergebrannt und schutzbedürftig sein? Wer dachte, dass da ein unversehens hereinbrechender Luftzug genügen könnte, es zum Flackern zu bringen?
 
Junge Menschen denken an sich: „Die Jugend braust, das Leben schäumt …“.
 
Hätten sie gewusst, dass ein Lebenslicht in Gefahr war, – sie hätten gewiss den Gevatter Tod angebettelt, wie der Arzt in der Höhle: „Ach, lieber Tod, zünde ihm ein neues Lebenslicht an, tu es uns zuliebe …“. – „Setz doch“, hätten sie mit dem Mann im Märchen gesagt, „auf das alte Lebenslicht ein neues, das gleich fortbrennt, wenn jenes zuende ist …“.
 
Aber der Tod stellte sich, so heisst es in dem Märchen, als ob er diesen Wunsch erfüllen wolle, langte ein frisches, grosses Licht herbei, aber er versah es beim Umstecken absichtlich, so dass, ehe er das neue Licht
entzündet, das Stümpfchen umfiel und verlosch. – Das ist die Antwort auf die vielen bitteren, verzweifelten „Hätten wir doch …“ und „Hätten wir doch nicht …“, welche so vielen hinterher durch den Kopf gingen.
 
Der Mensch, der Kollege, von dem Abschied zu nehmen wir uns in dieser Stunde vereinigt haben, heisst Hagen Lenthe. Es ist kein müssiges Unterfangen, den Wurzeln eines Mensch nachzuspüren. In seiner sich selbst ironisierenden Art pflegte Hagen Lenthe zu sagen, seine Vorfahren väterlicherseits hätten der niederen Geistlichkeit im Braunschweigischen, die mütterlicherseits dem Hannoverschen Kaufmannsstande angehört. Diese Blutsmischung von kontemplativ-transzendentalem und spekulativ-realem Denken mag in der Tat das Fundament seiner Persönlichkeit bedeutet haben …
 
(die nächsten vier Seiten: evtl. demnächst).
 
Im Jahre 1952 wurde Dr.Lenthe ans WG versetzt, seit 1952 war er der unsrige. Wir waren schon vom Sieveking-Platz ans Kaiser-Friedrich-Ufer umgesiedelt, als er zu uns stiess: schmalschultrig, lang und mager, leger in der Haltung, immer die Rechte in der Hosentasche, an heissen Tagen ohne Krawatte und Rock, mit geöffnetem Kragen. Nie werde ich vergessen, welchen Eindruck der Einzug dieses jungen Germanisten-Kollegen bei uns machte: … Plötzlich, in einer Pause, klingt ein Lachen auf, ein völlig unprogrammässiges, gleichsam unkonventionelles Lachen, – man horcht auf und hört eine Bemerkung, die nun in der Tat unter waschechten Beamten völlig unprogrammässig, völlig antikonventionell klingt, – eine Fanfare der Unbürgerlichkeit, quasi die
Urfreude am ungezogenen Einfall.
 
Muss ich es euch, liebe Schüler, Ihnen, liebe Kollegen, ins Gedächtnis zurückrufen, was Dr. Lenthe in unserer Gemeinschaft war? Das Lachen zog mit ihm ein, das Lachen jeder Art: das kindlich-harmlose, das sonorisch-laute, das bitter-trotzige, das zynisch-schmerzliche, irgendwie jedoch: das immer befreiende und erlösende Lachen, das der Situation ihre Spannung nahm, das dem Gespräch die rosarote Pointe aufsetzte, das dem leeren Wortgeplätscher plötzlich die scharfe Würze verlieh, das dem zögernden Vorwärtsschleichen in den Konferenzen den aggressiven Hornruf der Attacke einblies.
 
Ich sehe ihn so deutlich vor mir, da ich sein Bild zu beschwören suche: Fünf oder zehn Minuten nach acht kam er hereingeprescht, bereits leicht aufgelöst vom Wettlauf mit der Zeit, die unansehnliche, aus allen Nähten klaffende Ledermappe auf den Tisch knallend, – und doch alles andere als ein angstgejagter Kommis, der Schiss hat vor der Begegnung mit seinem Chef, immer noch seines Wertes und seiner Sonderstellung bewusst: „Es ist immer noch früh genug, wenn ich komme, lasst euch das sagen, ihr Terminakrobaten!“ – Ich sehe ihn noch vor mir, wenn er, schräg und langbeinig den Korridor kreuzend, eine Tür aufriss, – mit einem Schrei, – war es Gruss, war es Drohung,
war es Urlaut der Freude?? – Drinnen war er, schnellte er die Mappe seitwärts auf den Lehrertisch und umkreiste hochbeinig wie ein Tiger die Klasse. Nicht viel verstanden die Schüler von seinem Anfangsgemurmel, doch bald
entnahmen sie den hingeworfenen Lauten: Er wollte sie sehr um Entschuldigung bitten; nur das Auto sei Schuld an der Verspätung gewesen; mindestens zehn Minuten sei er in einem fremden Gemüsegarten herumgegurkt … usw. – Und dann konnte er, als wollte er Versäumtes nachholen, wie ein Falke auf die niedergeduckte Taube, mit langen Armen und vorschnellendem Kopf herabstossen und schmettern: „933 – Was bedeutet das?“
 
Nein, das waren gewiss keine trockenen Stunden, die er gab, – und wenn Schüler so vieles nicht erkennen: eines haben sie sehr bald spitz: den Humor, – den Humor, der dem Schulmeister das Zaubermittel an die Hand gibt, den Pauker (samt seiner Notizbuchmacht, seiner Gespreiztheit, seiner Trockenheit) in die Flucht zu schlagen. – Humor: er soll lateinisch das gleiche bedeuten wie Lebenssaft, und wenn dem so ist, so macht der
Lehrerhumor die Stunden vollsaftig – und damit geniessbar.
 
Gewiss: Es ist eine seltene und seltsame Sache um den Humor. Man sagt, er speise sich aus einem tiefernsten, vielleicht sogar pessimistischen Lebensgefühl, wie denn Wilhelm Busch ein überraschend begriffssicherer Anhänger Schopenhauerscher Philosophie gewesen ist. – Eines jedenfalls scheint mir Vorbedingung zu sein für die humorvolle Lebenshaltung des Lehrers: dass er sich selbst nicht so furchtbar ernst nehme, dass er über sich selbst lachen könne. – „Ja“, pflegte er zu sagen, wenn er am Sonnabend eine sechste Stunde zu geben hatte, „Seien Sie still, liebe Kollegen, die Behörde weiss wohl darum, dass ich immer die letzten Stunden gebe. Seien Sie still: Wir Sechststündler sind das Holz, aus dem man Oberschulräte schnitzt“. – Wie er dann schmunzeln und lachen konnte, im Bewusstsein, gleichsam aus Versehen in das Reglement des Beamtentums verfallen zu sein. … – Aber plötzlich, mitten im Gespräch, legte es sich wie ein unheimlich-heimlicher Ernst über seine Züge, und dann vermochte er eine Charakteristik von einem Schüler oder einem Kollegen zu geben, die nur zu Schweigen und Nachdenken aufrief.
 
Dr. Lenthe war verliebt in die witzige Pointe, aber er gab sie dahin, wenn Wichtiges auf dem Spiel stand: das Schicksal eines Schülers oder die Person eines Kollegen. Er konnte spotten, wie ich nie jemanden spotten gehört:
aber er konnte ernst werden, jäh wie ein Uhrenschlag, und er konnte den Schmerz über die Enttäuschung, die ihm ein Schüler bereitet, zeigen, wie ich es kaum von einem Lehrer und Kollegen erfahren habe. –  Dr. Lenthes
Gedanken kreisten unablässig um seine Schüler. Wie leidenschaftlich sein Herz sich mit ihnen beschäftigte, leidenschaftlich bis zum körperlichen Schmerz: das haben die Jungen erfahren, die in der Fremde die Kraft und
die Geduld eines Lehrerherzens allzu gedankenlos auf die Probe stellten. – Hinterher, nachdem dies geschehen, jammerten sie, wie die Ärzte: „Hätten wir doch …!“ – „Hätten wir doch nicht …!“ –
 
Genug der Worte: Das Unbegreifliche des Todes bleibt. Es ist wohl so: Der Tod spricht: „Ich kann nicht …“, weil Gesetze obwalten, die über unserem menschlichen Denken, jenseits unserer Massstäbe liegen.
 
Mir scheint noch immer jene über alle Massen herrliche Schlussszene aus Gerhart Hauptmanns naturalistischem Drama „Michael Kramer“ Trost zu bieten. Und daher möchte ich sie ans Ende dieser, im Angesicht eines unbegreiflichen Todes, so bescheidenen, unzulänglichen Worte setzen: die Worte eines grossen Dichters. – Sie verstehen sich aus folgender Situation: Dem alten Professor Kramer, Lehrer an der Akademie der Bildenden Künste, hat man seinen Sohn tot ins Haus getragen. Nun liegt er, ein junger, hoffnungsvoller Mensch, in seinem Maleratelier aufgebahrt, und der Vater hat die Lichter angezündet um seinen Sarg. – Er steht davor und spricht vor sich hin, während sein früherer Schüler Lachmann ihm stumm und ergriffen zuhört: „Lachmann, wir wollen die Lichte aufstecken.“
 
„Das ist es nicht.“
 
„Und jen’s ist es nicht.“
 
… „Aber was … was wird es wohl
sein am Ende?“
 
 
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Gerhart Hauptmann, Michael Kramer (Vierter Akt, Schlussszene)

Dies als Nachtrag zu dem vorigen Text. Der Text der Ansprache von Walter Gerhard hat bei vielen mehr aufgerührt, als wir erwartet hatten. – Es ist wieder einmal deutlich geworden, dass es offenbar Lehrer gibt, die bei ihren
Schülern, auch nach einem halben Jahrhundert, auch wenn sie selbst längst tot sind, immer noch lebendig sind.
 
Nur: die letzten Zeilen, das Zitat aus „Michael Kramer“, seien in dieser Verkürzung kaum verständlich. – Das stimmt. – Vielleicht war es ja auch nur eine Einladung an alle, die den „Michael Kramer“ nicht kennen, nun einmal den vollständigen Text zu lesen. Und, um allen, die den Text nicht zur Hand haben, die Sache zu erleichtern, haben wir ihn hier abgeschrieben, allerdings wieder nur in Auswahl, auch ohne alle Regieanweisungen; sonst wäre es zu lang geworden. – Der vollständige Text ist für wenig Geld in jeder Buchhandlung zu haben: für EUR 2,10 bei Reclam. – Unsere Abschrift beginnt genau an der Stelle, mit der auch Walter Gerhard begann.
 
Zur Orthograpie: „Sehn Se“, aber: „Hör’n Se“, und auch: „Machen Sie …“, wie in der Reclam-Ausgabe.
 
Bei immer wiederholtem Lesen: Walter Gerhard war ja, neben allem anderen, ein gescheiter, witziger und listiger Mensch: Vieles spricht dafür, dass er den folgenden Text, mehr noch als seine damalige Ansprache in der Aula,
als seinen eigentlichen Abschied und sein eigentliches Vermächtnis gemeint hat, und dass er sich gedacht hat, wer’s wissen will, der wird’s schon finden.
 

Kramer: Lachmann, wir wollen die Lichte aufstecken. Machen Sie mal die Pakete auf! … Leid, Leid, Leid, Leid! – Schmecken Sie, was in dem Worte liegt? – Sehn Se, das ist mit den Worten so: Sie werden auch nur zuzeiten lebendig, im Alltagsleben bleiben sie tot. … Wenn erst das Grosse ins Leben tritt, hör’n Se, dann ist alles Kleine wie weggefegt. Das Kleine trennt, das Grosse, das eint, sehn Se. … Der Tod ist immer das Grosse, hör’n Se: der Tod und die Liebe, sehn Se mal an. … – Wissen Sie, was ich heute morgen gemacht habe? – Lieblingswünsche zu Grabe gebracht. – Still, stille für mich.- Ganz stille für mich, sehn Se. – Hör’n Se, das war ein langer Zug. Kleine und grosse, dick und dünn. Jetzt liegt alles da wie hingemäht, Lachmann.
 
Lachmann: Ich habe auch schon einen Freund verloren. Ich meine, durch einen freiwilligen Tod.
 
Kramer: Freiwillig, hör’n Se! – Wer weiss, wo das zutrifft? – Sehn Se sich diese Skizzen mal an. … Da sind seine Peiniger alle versammelt. Sehn Se, da sind sie, so wie er sie sah. Und hör’n Se, Augen hat er gehabt … – Ich bin vielleicht nicht so zerstört, wie Sie denken, und nicht so trostlos, wie mancher meint. – Der Tod, sehn Se, weist ins Erhabne hinaus. – Sehn Se, da wird man niedergebeugt. Doch was sich herbeilässt, uns niederzubeugen, ist herrlich und ungeheuer zugleich. Das fühlen wir dann, das sehen wir fast, und hör’n Se, da wir man aus Leiden gross. – Was ist mir nicht alles gestorben im Leben! – Manch einer, Lachmann, der heute noch lebt. – Warum bluten die Herzen und schlagen zugleich? – Das kommt, Lachmann, weil sie lieben müssen. Das drängt sich
zur Einheit überall, – und über uns liegt doch der Fluch der Zerstreuung. – Wir wollen uns nichts entgleiten lassen, – und alles entgleitet uns doch, wie es kommt.
 
Lachmann: Ich hab das ja auch schon erfahren bereits.
 
Kramer: Als Michaline mich weckte die Nacht, da hab ich mich wohl recht erbärmlich gezeigt. Aber sehn Se, ich hab es da gleich gewusst. Und wie er dann musste so liegenbleiben, das waren die bittersten Stunden für mich. In dieser Stunde, wahrhaftigen Gott, Lachmann, – war das nun Läuterung oder nicht? -, da hab ich mich selber nicht wiedererkannt. – Hör’n Se, da hab ich so bitter gehadert: ich habe das selber von mir nicht gedacht. Ich habe gehöhnt und gewütet zu Gott. Hör’n Se, wir kennen uns selber nicht.
 
Michaline: …
 
Kramer: Ich weiss nichts von Hass. Ich weiss nichts von Rache. Das erscheint mir jetzt alles klein und gering. … Sehn Se, es hat mich ja angepackt. Das ist auch kein Wunder, hör’n Se mal an. Da lebt man so hin: das muss alles so sein. Man schlägt sich mit kleinen Sachen herum, und hör’n Se, man nimmt sie wer weiss wie wichtig, man macht sich Sorgen, man ächzt, und man klagt, und hör’n Se, dann kommt das mit einemmal, wie’n Adler, der in die Spatzen fährt. Hör’n Se, da heisst es: Posto gefasst! – Aber sehn Se, nun bin ich dafür auch entlassen, und was nun etwa noch vor mir liegt, da kann mich nichts freuen, da kann mich nichts schrecken, da gibt’s keine Drohung mehr
für mich.
 
Lachmann: Soll ich vielleicht eine Flamme aufstecken?
 
Kramer: Sehn Se, da liegt einer Mutter Sohn. … Grausame Bestien sind doch die Menschen. … Lachmann, kommen Sie, stärken Sie sich! Hier ist etwas Wein, da kann man sich stärken. Trinken wir, Lachmann, opfern wir! Stossen wir ruhig miteinander an! Und der dort liegt, – das bin ich! – das sind Sie! – das ist eine grosse Majestät! – Was kann da der Pastor noch hinzusetzen? … – Was haben die Gecken von dem da gewusst: diese Stöcke und Klötze in Mannsgestalt? Von dem und von mir und von unsren Schmerzen? … – Hör’n Se, Lachmann, das ist nun vorbei! …- ’s ist gut, wie er daliegt! ’s ist gut! ’s ist gut! – Ich habe den Tag über hier gesessen, ich habe gezeichnet, ich habe gemalt, ich habe auch seine Maske gegossen. Dort liegt sie, dort, in dem seidenenTuch. … Und will man das festhalten, wird man zum Narren. Was jetzt auf seinem Gesicht liegt, das alles, Lachmann, hat in ihm gelegen. Das fühlt‘ ich, das kannt‘ ich in ihm, – und konnte ihn doch nicht heben, den Schatz. – Sehn Se, nun hat ihn der Tod gehoben. Nun ist alles voll Klarheit um ihn her. … Hör’n Se, man wird überhaupt so klein: Das ganze Leben war ich sein Schulmeister. Ich habe den Jungen malträtiert, und nun ist er mir so ins Erhabne gewachsen. – …
 
Liese Bänsch: …
 
Kramer: Wo sitzt das nun, was so tödlich ist? Und doch, wer das einmal erfährt und lebt, der behält einen Stachel davon im Handteller, und was er auch anfasst, so sticht er sich. Aber gehn Sie nur getrost nach Haus! Zwischen dem da und uns ist Friede geworden. – – Die Lichter! Die Lichter! Wie seltsam das ist! Ich habe schon manches Licht verbrannt! Schon manches Lichtes Flamme gesehn, Lachmann. – Aber hörn Se: das ist ein anderes Licht!! –
Mach ich Sie etwa ängstlich, Lachmann?
 
Lachmann: Nein, wovor sollt ich denn ängstlich sein?
 
Kramer: Es gibt ja Leute, die ängstlich sind. Ich bin aber der Meinung, Lachmann, man soll sich nicht ängsten in der Welt. Die Liebe, sagt man, ist stark wie der Tod. – Aber kehren Sie getrost den Satz mal um: Der Tod ist auch
mild wie die Liebe, Lachmann. – Hör’n Se, der Tod ist verleumdet worden, das ist der ärgste Betrug in der Welt!! – Der Tod ist die mildeste Form des Lebens: der ewigen Liebe Meisterstück. (Er öffnet das grosse Atelierfenster,
leise Abendglocken …).

 
Das grosse Leben sind Fieberschauer, bald kalt, bald heiss. – Bald heiss, bald kalt. – Ihr tatet dasselbe dem
Gottessohn! Ihr tut es ihm heut wie dazumal! So wie damals, wird er auch heut nicht sterben! –
 
Die Glocken sprechen, hören Sie nicht? Sie erzählen’s hinunter in die Strassen: die Geschichte von mir und meinem Sohn. – Und dass keiner von uns ein Verlorner ist! – Ganz deutlich versteht man’s, Wort für Wort. – Heut ist es geschehen, heut ist der Tag! Die Glocke ist mehr als die Kirche, Lachmann! – Der Ruf zu Tische ist mehr als das Brot! – Wo sollen wir landen, wo treiben wir hin? Warum jauchzen wir manchmal ins Ungewisse? Wir Kleinen, im Ungeheuren verlassen? Als wenn wir wüssten, wohin es geht. – So hast du gejauchzt! Und was hast du gewusst? –
 
Von irdischen Festen ist es nichts! – Der Himmel der Pfaffen ist es nicht! – Das ist es nicht, und jen’s ist es nicht, – aber was … (mit gen Himmel erhobenen Händen) … was wird es wohl sein am Ende?
 
 
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Nachruf auf Susanne Waller (gestorben am 11. Dez. 2003)

Schüler und Lehrer des Wilhelm-Gymnasiums haben einen grossen Verlust erlitten: Am 11. Dezember dieses Jahres starb Susanne Waller, unsere Kollegin. Sie wurde nur 43 Jahre alt. Schon seit zwei Jahren hatte die schwere und tödliche Krankheit sie gezwungen, ihre Arbeit ruhen zu lassen.
 
Diese Arbeit hatte sie im Jahre 1997 fröhlich und schwungvoll begonnen, frisch aus der Referendarausbildung kommend. Jede Herausforderung, die das Lehrerdasein ihr präsentierte – und diese pflegen zahlreich zu sein -, nahm sie experimentierfreudig und tapfer an.
 
Meist dringen aus dem Klassenzimmer nur Gerüchte darüber, wie ein Lehrer denn so sei und was er mache. Sie zeigte, was in ihr steckte, indem sie zeigte, was sie aus den Schülern herausholen konnte: in einer grossen Ausstellung des Leistungskurses Kunst mit zahlreichen Objekten zum Thema „Kitsch“. Dies wäre an sich schon eindrucksvoll genug gewesen, aber sie kam zusätzlich noch auf eine erstaunliche Idee: Sie hatte gehört, dass unser Bunker auf dem Schulhof (nicht der grüne Bunkerhügel, sondern das Gewirr von Kellern, Gängen und Gewölben darunter) vor einiger Zeit von unserem Hausmeister und einer Gruppe begeisterter Schüler wieder begehbar gemacht, auch mit Beleuchtung versehen worden war. Also kam sie auf die Idee, dieses neugeschaffene
Labyrinth zum Ausstellungsraum zu machen. Im Gänsemarsch wanden sich die Besucher durch die Gänge, von †Überraschung zu †Überraschung.
 
Sie war aber auch nicht nur ideenreich, sondern auch kämpferisch: Das bewies sie u.a. als Mitglied des Personalrats. Trotz aller Energie verlor sie nie, was sie vor allem auszeichnete: Liebenswürdigkeit, Heiterkeit, Anmut.
 
Den Kampf gegen ihre Krankheit nahm sie an allen Fronten und mit allen Mitteln auf. Nach den ersten Therapien schien Anlass zur Hoffnung zu bestehen, bis im Frühjahr neue Tumore ihr, der Künstlerin, ausgerechnet die Sehkraft schädigten. So rasch auch die Krankheit nun voranschritt, Susanne Waller nutzte bis zum letzten Augenblick alle Möglichkeiten, ihr immer enger werdendes Aktionsfeld auszufüllen.
 
Wer mit ihr zusammenarbeitete, weiss, dass sie, soviel sie auch schon getan hatte, noch grosse Möglichkeiten in sich trug. Ihr früher Tod hat eine Entwicklung abgebrochen, die für viele fruchtbar zu werden versprach. So können wir unseren Verlust eigentlich gar nicht ermessen. Umso grösser ist unsere Trauer.
 
Gabriele Krüger, 23.12.2003
 
 
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Wie es im Leben so geht: Manfred Fuhrmann

Der Anlass der folgenden beiden Texte ist der Tod von Manfred Fuhrmann.
 
Fuhrmann war lange Zeit Professor für Literaturwissenschaft und Latinistik an der neugegründeten Universität
Konstanz. In der Nacht zum 12. Januar 2005 ist er in seinem Haus in †Überlingen am Bodensee gestorben, im Alter von 79 Jahren. – Wir hatten die genannten Texte zunächst unter der Rubrik „Fächer“ beim Fach Latein eingetragen,
weil Fuhrmanns Tätigkeit garade auch für den Lateinunterricht an unserer Schule von grosser Bedeutung war. – Nun hören wir aber von verschiedenen Seiten, dass die Logik und das Gleichgewicht unserer Homepage eine andere Einordnung verlangt.
 
Daher jetzt hier (unverändert):
 
Den Text über das Fach Latein habe ich (Schulz) vor etwa zwei Wochen geschrieben. Dabei kam ich, wie man sieht, um einen Namen nicht herum: Manfred Fuhrmann.
 
Es ging darum, dass all unsere Schüler und Schülerinnen jetzt in der Mittelstufe die sog. „Fuhrmann-Texte“
lesen und traktieren: die lateinische Bibel (Vulgata), die Geschichten von Joseph und seinen Brüdern, Erasmus von Rotterdam, Colloquia familiaria, Carmina Burana usw., – aber keinen Caesar … – Für diese Texte hatte Fuhrmann gekämpft, energisch, temperamentvoll – und mit Erfolg.
 
Einige Tage danach bekam ich Lust, Fuhrmann direkt am Telefon zu fragen: „Macht es Ihnen eigentlich Freude, dass jetzt, zumindest in Hamburg, lauter kleine Fuhrmänner herumlaufen? – So hatte ich mir die Frage ausgedacht. – Ich war, natürlich, auf seine Antwort gespannt, aber ich konnte ihn nicht erreichen. – Und nun, heute vor zwei Tagen, die Nachricht, dass er in seinem Haus in †Überlingen am Bodensee gestorben ist, im Alter von fast achtzig Jahren.
 
Alle, die ihn in der letzten Zeit noch erlebt haben, auf Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen usw.: argumentierend, diskutierend, präzise formulierend, dabei stets munter, listig, oft belustigt, aber auch nachdrücklich und unermüdlich werbend für die Sache, die ihm am Herzen lag, haben sich vermutlich nie vorgestellt, dass die Krankheit schon in ihm sass und ihm zunehmend zusetzte. – Und keiner konnte sich vorstellen, dass er fast achtzig Jahre alt war …
 
Nun ist er also tot. – Ich habe seine Frau, als ich die Nachricht – auf Umwegen – erhalten hatte, spontan angerufen, und ich glaube, sie hat mir angemerkt, dass ich nur schwer damit zurechtkommen konnte. –
 
Meine persönliche Verbindung zu Manfred Fuhrmann begann vor gut einem Vierteljahrhundert: Prof. Bömer,
damals Schulleiter am WG, zugleich Herausgeber und Redaktor der Zeitschrift „Gymnasium“, gab mir ein schmales Bändchen in die Hand, mit der Aufforderung, es für seine Zeitschrift zu rezensieren: „Manfred Fuhrmann. Die Antike
und ihre Vermittler. Konstanz 1969″. – Fuhrmann war damals gerade als Latinist an die neugegründete Universität Konstanz berufen worden; es handelte sich um seine Konstanzer Antrittsvorlesung und um eine temperamentvolle und ziemlich heftige Abrechnung mit der Art, wie das Fach Latein an den deutschen Universitäten damals traktiert und wie es in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.
 
Und ich, der ich selbst einst unter diesem Universitätsbetrieb gelitten hatte, war begeistert, habe ihn dann auch – auf seine Einladung hin – in seinem Haus in †Überlingen besucht, konnte – durch seine Vermittlung – mehrere neugegründete Universitäten besuchen (denn es ging ja um den Versuch einer Neuorientierung für das Fach Latein) und habe über meine Erfahrungen und Eindrücke in einem längeren Traktat in der Zeitschrift „Gymnasium“ berichtet. Für mich war dies eine ganz wichtige Zeit, für die ich Fuhrmann immer danken werde.
 
Fuhrmann selbst hat dann irgendwann „die Lehrer entdeckt“; vermutlich nicht nur die Lehrer, sondern auch den Schulbetrieb im tiefsten Süden Deutschlands: in Bayern und in Baden-Württemberg. Er hatte vier Kinder, und er erlebte vierfach, wie es ihnen dort erging. Sein Fazit, vor allem für das Fach Latein: Er war entsetzt …
 
Er begann also zu handeln: in unzähligen Vorträgen, in Veranstaltungen des Deutschen Altphilologenverbandes,
der Mommsen-Gesellschaft, in Schreiben an Behörden, Kultusministerien, in Kontakten mit Lehrplanausschüssen usw. – Es ging ihm dabei vorwiegend darum, verkrustete und etablierte Strukturen aufzubrechen: Warum in der
Mittelstufe immer nur Caesar, jahrelang? Warum immer nur Historiker, mit der obsoleten Schilderung von Schlachten und Schlachtfeldern? Warum lauter Übungsbücher, die auf Caesar und nichts als Caesar hinarbeiteten …? – Statt dessen wünschte er sich (und dies eins seiner Hauptanliegen) freies Umgehen mit der immensen Hinterlassenschaft alles dessen, was in lateinischer Sprache aufgeschrieben ist, bis hinein in die Humanistenzeit. – Berühmt seine Streitschrift „Caesar oder Erasmus – †Überlegungen zur lateinischen Anfangslektüre“. – Und, um das Ergebnis zusammenzufassen: Er hatte auf der ganzen Linie Erfolg, uneingeschränkt: Alles, was er damals forderte und propagierte, ist heute – für das Fach Latein – unbestrittene Grundlage aller Arbeit an Schulen und Universitäten.
 
Diese seine Tätigkeit ist in den Feuilletons von heute (14.1.05: Süddeutsche, FAZ) ausführlich und einfühlsam gewürdigt worden. – Wobei allerdings die lustige und geistreiche Überschrift der FAZ: „Das Land der Römer für die Schule suchend“ die Intention Fuhrmanns in mehreren Punkten verfehlt. – „für die Schule“ ist zwar durchaus
richtig, aber es stimmt nur halb: Fuhrmann ging es bestimmt in gleichem Masse um den Universitätsbetrieb, denn auch dort (s.o.) fand er vieles, was anders werden sollte und müsste. – Ausserdem – das hat er immer wieder betont – ging es ihm gerade nicht um Rom und um das „Land der Römer“, sondern um die lateinische Sprache und die Art, wie diese Sprache über ein Jahrtausend lang ganz Europa, nicht nur Rom, geprägt hat. – Eins bleibt allerdings
richtig: sein Anspruch, auch die antike Literatur Roms als eigene Literatur wahrzunehmen, nicht nur als Ableger der griechischen.
 
Merkwürdig bei alledem: Fuhrmann hat, wo auch immer er sich zu Worte meldete, temperamentvoll und energisch
gegen herrschende Tendenzen und Strömungen argumentiert, hat sich also, so sollte man denken, überall unbeliebt gemacht (denn wer hört schon gerne, dass er letzlich alles falsch macht?), – aber: das Ergebnis war ganz unerwartet: Er wurde geliebt, umworben, mit Beifall überschüttet … und vielfach nachgeahmt.
 
Ob er damit am Ende glücklich war, mag ich nicht entscheiden. Es mag sein, dass gerade der Erfolg ihn verwirrt hat (s. den Text über das Fach Latein). – Sein Ziel und seine Idee war ja gerade das Aufbrechen des starren Kanons, die Vorstellung, dass der Unterricht völlig frei mit dem immensen Erbe der lateinischen Literatur umgeht, ohne einen wie auch immer gearteten Lehrplan, der ja nur wie ein Korsett wirken könne. – Was ist dann aber daraus geworden, zumindest in Hamburg? – Ein Lehrplan, der zwar äusserlich alles aufnimmt, was Fuhrmann vorgeschlagen hat (und zwar bis in die Einzelheiten), der daraus aber ein so ödes Gerippe von Vorschriften macht (mit der zusätzlichen Drohung, am Ende werde darüber eine „Vergleichsarbeit“ geschrieben), dass nur ein wahrhaft begnadetet Lehrer daraus noch etwas Originelles und Selbständiges entwickeln kann. – So kann eine Behörde – sicher keineswegs böswillig, sondern mit den besten Absichten – viel Gutes im Keim ersticken. Und jeder weiss es: Die „besten Absichten“ führen nicht immer zum besten Ergebnis.
 
Was Manfred Fuhrmann darüber denkt? Wir können ihn nicht mehr fragen, aber seine Frau hat mir – am Abend
nach seinem Tode – genau dies bestätigt: wie sehr er gerade darunter gelitten hat, unter der Art, wie gute, fruchtbare, originelle, lebendige Ideen im Behördenalltag und im Lehrplangeschäft zu tötenden Langweilern gemacht werden können.
 
Und ich erinnere mich an einen Abend, etwa vor dreissig Jahren: Ich war für gut eine Woche zu Gast bei Fuhrmann und an der Konstanzer Universität. Für einen sommerlichen Abend hatte der Professor Newiger, Graezist in Konstanz, alle, die dort irgendwie mit Latein und Griechisch zu tun hatten, in sein wunderbares Haus auf dem Lande eingeladen. Und ich, junger, lerneifriger Lehrer, beeindruckt von dem ganzen Treiben, ein wenig befangen wegen der vielen anwesenden Professoren, verwirrt auch durch die lockere Art, wie Fuhrmann und seine
Kollegen über das „idiotische Geschehen“ an ihrer Uni sprachen (die ja immerhin in Deutschland als eine der besten galt), – ich sprach ihn, Fuhrmann, auf die Lehr- und Studienpläne an, die ich gerade an dem Tag studiert hatte; da sei doch immerhin vieles „klug und umsichtig und sehr perfekt geregelt …“. – Er (gut gelaunt, vielleicht ein wenig beschwipst, denn es war eine bunte Gesellschaft, reichlich Wein, viele Frauen …) antwortete nicht, sondern fing spöttisch an zu singen: „Ein Plan, ein Plan, ein Plan …“, – und alle nickten Beifall. – Offenbar war man sich in diesem Kreis von Gelehrten einig: Durch Pläne wird kaum etwas bewirkt, – und vieles verhindert. Wer wirklich etwas bewirken will und kann (und nur von denen ist die Rede), der macht es ohne alle Pläne und, wenn es sein muss: gegen alle Pläne. – Ich, damals noch ganz brav und obrigkeitsgläubig, stand etwas dumm da, hatte aber trotzdem den Eindruck, von allen freundlich, wohlwollend und ein wenig mitleidig akzeptiert zu sein.
 
Fuhrmann muss letzten Endes, je berühmter er wurde und je grösser sein Einfluss wurde, zunehmend den Argwohn gehabt haben, dass er in dem, was er wirklich wollte, von vielen nicht richtig verstanden wurde. – Vielleicht hängt es mit dem zusammen, was der Hamburger Theologe Heinz Zahrnt (einer, der ihm in vielem ähnlich war) in einem seiner Traktate die „Melancholie der Erfüllung“ nannte: Befriedigung, Glück, Trauer
– und ein wenig Enttäuschung, weil das Erreichte am Ende dann eben doch anders aussieht als der Traum, den man geträumt hatte.
 
Ich einem allerdings – so denke ich – war Fuhrmann uneingeschränkt glücklich: Die vielen Bücher, Aufsätze, Lexikonartikel, die er vor langer Zeit und auch noch in den letzten Jahren mit unglaublichem Fleiss und einer wahren Besessenheit geschrieben hat, nicht nur über lateinische Literatur, sondern über fast alles, was mit europäischer †berlieferung zusammenhängt, gehören mit grossem Abstand zum Besten, was es auf diesem Gebiet gibt: Sie haben allesamt ihren unverwechselbaren Stil, ihre unverwechselbare Sprache und sind in ihrer Art einzigartig. – Das wusste er, und das wurde ihm, von allen Seiten, immer wieder bestätigt.
 
Schulz, 14.1.2005
 
 
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Noch einmal über Manfred Fuhrmann

Wir freuen uns – natürlich – über alle, die unsere Texte lesen und ggf. weiterspinnen. – Einer aus dem Kreise unserer Eltern, Vater von zwei Kindern am WG, hat uns als Ergänzung zu dem vorigen Text und zu den beiden genannten Nachrufen (Süddeutsche und FAZ) die Kopie eines Textes geschickt, der einen Tag später in der
WELT erschienen ist. – Autor: Konrad Adam. – Wir bedanken uns sehr dafür und geben den Text gerne weiter, zumal uns scheint, dass dieser Text – bei aller Kürze – die wesentlichen Anliegen Fuhrmanns – aber auch seine
Ecken und Kanten – besonders klar erkennt und formuliert; offensichtlich schreibt der Verfasser aus enger Vertrautheit mit Fuhrmann.
 
Die Altphilologie, das Studium der griechischen und lateinischen Sprache, gilt vielen als eine verlorene Sache. Wenn sie den Anspruch erhebt, dem Humanismus zu dienen, weckt sie die Vorbehalte selbstbewusster Modernisierer.
 
Glücklicherweise gilt das auch in umgekehrter Richtung: Auch der Entschluss, an einer Sache festzuhalten, die dem Zeitgeist zuwider ist, macht selbstbewusst: „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, die unterlegene aber dem Cato“, sagt der Dichter Lucan über den jüngeren Cato, der im Bürgerkrieg gegen Cäsar die Republik vertreten
– und verloren hatte (victrix causa deis placuit, sed victa Catoni; ein böses Wort über die Götter, von einem, der es wissen musste).
 
Ich habe dieses Zitat aus dem Munde von Manfred Fuhrmann nie gehört; aber es passt zu ihm. Er besass ein heftiges, schwieriges Temperament, das er gern gegen alle Welt ausspielte, auch gegen Freunde und Bekannte. Folgen hatte das aber nie, denn unerbittlich war Fuhrmann nur in der Sache, und das machte die Versöhnung immer wieder leicht. Auch diejenigen, die aus vielen, mehr oder weniger ehrenhaften Gründen zu ihm auf Distanz hielten, gaben unumwunden zu, dass er im Laufe seines langen Lebens zum Haupt der deutschen Altphilologie geworden war. Er beherrschte sie in allen ihren Facetten.
 
Als Mitbegründer der Konstanzer Schule und Mitglied jener Arbeitsgruppe, die sich „Poetik und Hermeneutik“
nannte und die die  Rezeptionsästhetik in Deutschland heimisch machte, kam es ihm auf Vermittlung an. „Die Antike und ihre Vermittler“ hiess denn auch eine seiner Gelegenheitsschriften, mit der er weit über das Fach hinaus Echo und Widerspruch ausgelöst hat.
 
Er war ein Gelehrter alten Typs, belesen wie wenige und von stupendem Fleiss. Am Mittwoch ist er in Überlingen im Alter von 79 Jahren gestorben. Buchstäblich über seinen Büchern, wie Freunde berichten.
 
Ursprünglich hatte es ihn, den begabten Pianisten, zur Musik gezogen. Dann fand er, mehr oder weniger zufällig, über den Rechtshistoriker Franz Wieacker zur Antike. Mit einer Untersuchung über das systematische Lehrbuch hatte er sich in Göttingen habilitiert; dabei war er auf die unter dem Namen des Aristoteles überlieferte Rhetorik des Anaximenes von Lampsakos gestossen. Da es von ihr keine brauchbare Ausgabe gab, machte er sich als nächstes, typisch für sein unruhiges, ebenso neugieriges wie gründliches Wesen, an die Neuedition dieser Schrift. Er wollte weniger der Fachwelt als sich selbst beweisen, dass er auch dieses Metier beherrschte. Und das gelang ihm glänzend.
 
Die Fachwelt war ihm allerdings zu eng. Er wollte wirken und werben und hat das mit seinen Büchern über Cicero und eine Doppelbiographie über Seneca und Kaiser Nero auch getan. Fast nebenbei fiel dabei eine Neuübersetzung sämtlicher Cicero-Reden ab, eine Arbeit, die andere vielleicht als Lebenswerk betrachtet hätten.
 
 
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Manfred Fuhrmann: Wer nicht von dreitausend Jahren …

Interpretation eines Gedichtes aus dem „West-östlichen Divan“ von Goethe, erschienen in der FAZ vom 15.01.2005: „Alle Wohnungen des europäischen Hauses ruhen auf demselben Sockel“
 
Die letzte Strophe kennt jeder, den ganzen Text („Und wer franzet oder britet …“) – nur wenige. – Manfred Fuhrmann hat seine kurze Interpretation dieses Gedichtes für die „Frankfurter Anthologie“ zu Papier gebracht, und, vermutlich nicht ganz zufällig, ist sie jetzt, einige Tage nach seinem Tode, im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen zu lesen. – Wir bringen seinen Text unverändert, er ist, sozusagen, eine Art Vermächtnis, eine Zusammenfassung alles dessen, was ihm in seinem Leben wichtig war:
 
Das Gedicht stammt aus dem „Buch des Unmuths“ im „West-östlichen Divan“. Vier Strophen enthalten ebenso viele Sätze, und jeder Satz besteht aus zwei exakt gleich grossen Hälften: Diese durchaus nicht anmutige Blockhaftigkeit klingt, als habe Goethe seinen Rügen auch durch eine sperrige Form Nachdruck verleihen wollen.
 
Die erste Strophe
 
Und wer franzet oder britet,
 
Italienert oder teutschet,
 
Einer will nur wie der andre
 
Was die Eigenliebe heischet. …:
 
Goethe missbilligt sie allesamt: Franzosen und Briten, Italiener und Deutsche: Sie alle sind voreingenommen, für die je eigene Nation.
 
Die Negationen der zweiten Strophe
 
Denn es ist kein Anerkennen,
 
Weder vieler, noch des einen,
 
Wenn es nicht zu Tage fördert,
 
Wo man selbst was möchte scheinen …
 
laufen auf ein „nur“ heraus: Anerkannt wird nur, was dem „heute“ förderlich ist, was dem Anerkennenden Reputation einbringt. Goethe spitzt die These des Anfangs zu: Der Horizont der Eigenliebe ist nicht nur durch das Nationale, sondern überdies noch durch das je Modische begrenzt.
 
Die dritte Strophe könnte als Rollenrede in Anführungszeichen eingeschlossen werden: Sie erläutert die zweite aus der Sicht des „man“. Der Sprecher ist Zyniker: Er kennt das Rechte und bevorzugt gleichwohl, um der „Gunst“ willen, das Schlechte, oder, was hier als dasselbe gilt, er geht, unbekümmert um  das „morgen“, ganz im Betrieb des „heute“ auf.
 
Die letzte Strophe
 
Wer nicht von dreitausend Jahren
 
Sich weiss Rechenschaft zu geben,
 
Bleib im Dunkeln unerfahren,
 
Mag von Tag zu Tage leben …
 
verkündet mit überraschendem Pathos und in gar nicht sperriger Form, was der an den „Tag“ Angepflockte verfehlt: das Licht der Erfahrung, die †bersicht über den Weltlauf. – Beides kommt nur dem zugute, der auf Kenntnis von drei Jahrtausenden Geschichte zurückgreifen kann.
 
Zu Anfang des Gedichte dominiert – mit den Nationen der beiden ersten Verse – der Raum; dann, von der Mitte an, gliedern zeitliche Kategorien die Gedanken. Raum und Zeit haben offenbar eine gemeinsame Bezugsgrösse, die ungenannt bleibt: Europa. – Hierauf deuten sowohl die Nationen als auch die Jahre: Die Nationen repräsentieren die Sprachen, die der gebildete Europäer des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zu beherrschen pflegte; die Jahre verweisen auf das Alter der europäischen Kultur, von dem die damalige Schule ihren Zöglingen durch
Homer und das Alte Testament einigen Begriff verschaffte.
 
Goethe begnügte sich nicht damit, Europa nach Raum und Zeit auszuloten. Beides ist ja durch Ichbezogenheit
und Geltungssucht eingeengt: auf die einzelne Nation, auf die Gegenwart. Die beiden Aspekte sind geradezu identisch.
 
Von den dreitausend Jahren fällt die Hälfte auf das Atertum, auf die Fundamente, die gemeinsamer Besitz aller Völker Europas sind. Daher lassen sich die beiden Verkümmerungen, die räumliche wie die zeitliche, durch ein und dieselbe Abhilfe beheben: durch die Fähigkeit, sich von der ganzen Geschichte Europas Rechenschaft zu geben: Wer die Antike kennt – von Troja bis Byzanz, von der Ilias bis zum Corpus Iuris -, der weiss, dass alle Wohnungen des europäischen Hauses auf demselben Sockel aufruhen, dem liegt es fern, sich engstirnigem, nationalem Dünkel hinzugeben. …
 
 
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